WIR BITTEN ZUM TANZ
Es ist noch gar nicht so lange her, da war „Disco“ das Schimpfwort Nummer Eins im Vokabular des durchschnittlichen Rock-Fans. Es ist noch gar nicht so lange her, da fristete schwarze Musik ein Schattendasein in Europa. Da galt das Tanzengehen in der Samstagnacht unseren Kulturkritikern als Beweis der Degeneration einer ehemals kritischen Jugend.
Doch die Zeiten haben sich geändert. So nachhaltig wie schon lange nicht mehr dominieren schwarze Sounds das Musikangebot der Gegenwart, weiße Bands greifen schwarze Spielweisen auf. Funk löste Punk ab, und es gibt heute kaum noch eine Band, die nicht von sich beansprucht, sie wolle die Leute zum Tanzen bringen; kaum ein bedeutender weißer Musiker, der nicht von seinen Vorbildern aus Soul, Funk, Disco oder afrikanischer Musik schwärmt.
Schaut man 1983 in einer bundesdeutschen Discothek einem halbwegs informierten DJ über die Schulter, wird man mit einer fast unüberschaubaren Palette schwarz-weißer Tanzmusik konfrontiert: Weiße Funkbands wie Level 42, Wham oder Spandau Ballet, Reggae-inspirierte Tanzmusik von Culture Club, Musical Youth oder Eddy Grant, lateinamerikanische Tanz-Rhythmen von Kid Creole und Blue Rondo a la Turk, britischer Funk-Pop von Haysi Fantayzee und den Thompson Twins, ewig junge Soul-Oldtimer wie Marvin Gaye und Michael Jackson, Elektro-Pop von Depeche Mode und Heaven 17, Afro-orientierte Tanzbands wie BowWowWow, USFunkateers wie Kool & the Gang und die Gap Band, Schmalz-Funk von ABC und und und. Von den aus New York importierten Maxi-Singles obskurer Gruppen ganz zu schweigen.
Nicht zu vergessen auch die deutschen Bands, die 1983 so „schwarz“ spielen wie nie zuvor. Allen voran natürlich die Fehlfarben, die bezeichnenderweise bei den letzten „MÜV-Kritikertips den ersten Platz belegten.
Selbst ein Mann wie Phil Collins, der bei Genesis in einer völlig anderen musikalischen Tradition aufwuchs, arbeitet heute mit Earth, Wind & Fire und covert den alten Supremes-Hit „You Can’t Hurry Love“, Und wenn in wenigen Tagen das sensationelle Funk-Album von David Bowie erscheint, wird es auf den Tanzböden augenblicklich zum Standard-Repertoire zählen.
Daß Tanzmusik aber nicht nur ein ghetto-ähnliches Dasein in den Discos führt, beweist ein Blick in die aktuellen Hitparaden Da kann sich beispielsweise ein völlig unbekanntes Funk-Trio namens Indeep („Last Night A DJ Saved My Life“) mitten zwischen Nicole und James Last plazieren…
Der Tanz-Bazillus wütet allerorten. Ob schwarz oder weiß, Funk oder nicht Funk, spielt dabei keinerlei Rolle. Die musikalischen Wurzeln aber, und mögen sie noch so verzweigt sein, lassen sich eindeutig auf farbige Musik zurückführen.
Die heutige Bedeutung schwarzer Musik erinnert an die späten Sechziger, als kaum noch eine neue weiße Band ohne Mundharmonika und Blues-Gitarre auskam, als man alles coverte, was die Geschichte des Blues zu bieten hatte, als alte, zahnlose Blueser, die ihre große Zeit in den Dreißigern gehabt hatten, aus ihren Hütten hervorgezerrt und dem weißen Jugend-Publikum vorgeführt wurden. Die Zeit von Cream, Yardbirds, Canned Heat, Chicken Shack, John Mayall und unzähligen anderen.
Funk und Disco hatten es beim anspruchsvollen weißen Publikum in den Siebzigern besonders schwer, weil sie zunächst mit keinem dieser kulturellen Ansprüche verbunden waren, die das Siebziger-Rock-Publikum bei seinen Art-Rock- und Klassik-Rock-Bands von Yes bis Genesis befriedigt fand.
Auch die vom weißen Rock immer wieder verkündete Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit fand keinen Eingang in die schwarze Musik, die nichts anderes sein wollte als elegante Musik, elegant präsentiert und auf jeden Fall tanzbar.
Als David Bowie, Mitte der Siebziger, die „schwarze“ Platte YOUNG AMERICANS aufnahm, ging ein Aufschrei durchs weiße Rockpublikum. Gerade Bowie stand doch bis dahin für Ansprüche, für den kulturellen Überbau, den die weiße Popmusik seit SERGEANT PEPPER für sich verkündete. Dieser Mann machte damals ein Phülysound-Album und erwies damit als erster der schwarzen Disco-Musik seine Referenz.
Für das weiße Rock-Publikum war Phillysound und, was damals als „Disco“ begann, nach wie vor der Feind, die Pest. Hergesuchte und dabei nicht einmal zutreffende Argumente wie „Primitivität“
(Philly-Musik war in der Regel harmonisch nicht weniger simpel, eher komplizierter als der schon damals überall anerkannte Motown-Sound der Sechziger) mußten dazu herhalten, die Legitimation der weißen Musik aufrecht zu erhalten. Punk rühmte sich, als erste Spielart der Rock-Musik ganz ohne das Blues-Schema auszukommen, in Amerika gab es „No Disco“-Bewegungen. Bob Seger-Fans verbrannten „Disco“-Platten in öffentlichen Ritualen.
Doch auf der Seite der Musiker war Disco nicht zurückzudrängen. Die musikalischen Erneuerungen und die technische Brillianz einer Gruppe wie Chic, die nach 77 die Post-Phüly-Phase der schwarzen Disco-Musik entscheidend prägte, waren für Musiker nicht zu überhören. Die große weiße Revolte, als die sich die Punk/New Wave-Bewegung zuerst gab, machte sehr bald Anleihen bei schwarzer Tanzmusik. Schließlich konnte man nicht ewig Pogo hüpfen, Die Talking Heads, Parade-New Wave-Band, hatte schon auf ihrer ersten LP Disco-Einflüsse eingearbeitet, die zweite von 1978 lief bereits in Discotheken. Bei ihrer vierten REMAIN IN LIGHT, und bei dem David Byrne/Bnan Eno-Solo-Album, war der Einfluß schwarzer Musik auf großer Linie nicht mehr zu überhören. Diese beiden für die gesamte Pop-Welt einflußreichen Alben bewiesen einmal mehr, daß immer, wenn es in der Pop-Musik weitergehen sollte, der Rückgriff auf die schwarze Musik nötig wurde.
Als die Punks 76/77 den Rocksimplifizierten und von Kulturansprüchen entrümpelten, wurde zunächst ein anderer schwarzer Einfluß bedeutsam: Reggae. Belächelt bei seiner Entdeckung, als exotisch auf die Import-Regale verbannt, wurde Reggae nun von den weißen Punk-Musikern zur Lieblingsmusik erklärt. Solidaritätsgefühle zwischen weißen Arbeitslosen-Kids und unterpriveligierten Jamaika-Einwanderern mochten in England damit zu tun haben: Von The Clash bis zu den Ruts, später bei Police, Joe Jackson, ja sogar in den Avantgarde-Zirkeln von Public Image war Jamaika „in“. Reggae und vor allem die exotischen Produktions-Techniken, Dub genannt, schärften dem weißen Pop die Ohren für die Bedeutung einer guten Produktion.
Dennoch war Reggae nicht so entscheidend wie der Einfluß von Funk und Disco in den folgenden Jahren. Während die Talking Heads ihre Auseinandersetzung mit der schwarzen Musik von LP zu LP auf sehr eigenwillige Weise intensivierten, entstand in Großbritannien das, was man damals mit dem Namen „Bnt-Funk“ belegte: Dutzende von Gruppen, die mit Punk gestartet waren, hatten in den Jahren 79/80 die Grundbegriffe des Nüe Rodgers (Chic) Gitarren-Spiels gelernt und sich auch angewöhnt, nach Art von Larry Graham (dem ehemaligen Bassisten von Sly & The Family Stone, später Graham Central Station) den Baß knallen zu lassen.
Natürlich waren diese weißen Kids im technischen Sinne nicht so gut wie die schwarzen Überprofis. Aber sie verstanden es, ihre technische Inkompetenz als zusätzlichen Reiz auszuspielen und neue simple, „punkige“ Spielweisen von Funk zu entwickeln.
In diese Richtung gehörten Bands wie The Higsons, A Certain Ratio, Medium Medium, aber auch die mit Free-Jazz-Anleihen operierenden Gruppen wie die Pop Group, The Contortions und die Bush Tetras aus New York.
Daß die meisten dieser Gruppen kaum bekannt wurden, lag daran, daß sie ähnlich wie die vielen Post-Punk-Bands in den Jahren 79/80 auf unabhängigen Labels erst so etwas wie ein Vorhut bildeten für die großen weißen Tanz- und Funk-Jahre 81, 82 und 83.
Zwar hatten sich nach und nach bei Bands von Clash bis XTC Disco- oder Funk-Spielweisen eingeschlichen, aber keiner wollte so recht das Kind beim Namen nennen.
Nach wie vor verbargen sich die Tanzhits auf LPs; DJs mußten sich die entsprechenden Tanzstücke mühsam heraushören oder aber sie vertrauten nach wie vor auf die schwarzen Tanzhits, die sie als acht bis zehnminütige Maxis aus den entsprechenden Import-Shops bezogen.
Das Ergebnis: Wer tanzen ging, hörte meistens eine Musik, die er nicht kannte, die nichts mit dem zu tun hatte, was er als LP zuhause auflegte.
Erst die Entdeckung des Mediums Maxi durch die weiße, vor allem die britische Pop-Szene änderte diesen Zustand langsam m den beginnenden Achtzigern.
Heute bringen sie alle von den Simple Minds bis Soft Cell, von Haircut 100 bis Spandau Ballet, von Blue Rondo A La Turk bis Culture Club, von Bow Wow Wow bis Fehlfarben, von den Zimmermännern bis ZaZa, von Nena bis David Bowie Maxi-Versionen der tanzbarsten Hits ihrer Platten auf den Markt und schaffen so den Boden für eine völlig neue Disco-Kultur.
Die Trennung zwischen der Wohnzimmer- und Discotheken-Musik wurde nach und nach abgeschafft. Und das in zweierlei Hinsicht. In gleicher Weise wie die DJs durch die Veröffentlichung von Maxis weißer Pop-Stars für die Tanzbarkeit weißer Pop-Musik empfänglich gemacht wurden, wurden die weißen Pop-Kunden durch die Maxis ihrer Stars für die schwarzen Import -Funk-Maxis interessiert. Der Marktanteil der Maxis ist 1982 in Europa, auch in der BRD, explosionsartig angewachsen.
In den Jahren 81/82 entstanden dabei durchaus verschiedenartige Pop-Stüe; die weiße Musik verkam nicht etwa zu einem Second-Hand-Funk-Einheitsbrei, sondern nutzte vor allem die schwarzen Techniken, um aus einer Komposition einen tanzbaren Song zu machen.
Das war zum einen eine Sache der Produktion. Viele der neuen Tanz-Pop-Gruppen sind ohne die neue Bedeutung, die in den letzten Jahren den Produzenten zukam, einfach undenkbar.
Andererseits ließ die Entscheidung, eine Musik rhythmisch eindeutig tanzbar zu gestalten, mehr Platz für Erfindungsreichtum bei Melodie, Text und Image. Auf einem stramm organisierten Funk-Hintergrund ließen sich Experimente machen, die woanders schnell ins Auge gegangen wären. So leistete sich Martin Fry (ABC) die sonst wohl als kitschig empfundene Gesangsakrobatik, schnulzte Spandau Ballet-Sänger Tony Hadley, was das Zeug hielt, weil sie sich des soliden Tanz-Hintergrundes sicher waren.
Dennoch läßt sich das, was sich nun an weißer Tanzmusik entwickelt hat, keineswegs auf Funk festschreiben. Oft sind es nur noch einzelne Funk-Erkennungszeichen (reduzierte Baß-Signale, Gitarren-Riffs), die Kritikern diesen Begriff nahelegen.
In Wirklichkeit ist bei vielen Bands etwas zu beobachten, was sich zur schwarzen Tanzmusik, wie wir sie aus den Siebzigern kennen, ebenso verhält wie die Musik der Beatles zum Rock’n Roll. Oder besser: wie Cream zum Blues-Veteranen Sonny Boy Wühason. Die weiße Pop-Musik hat in der starken Anlehnung an eine schwarze Musizierhaltung eine neue eigene Identität gefunden.
Nehmen wir eine Band wie Culture Club. Ihr Hit „Do You Really Want To Hurt Me“ ist ein Renner in Discotheken und Musikboxen, hat aber mit Funk nicht das Geringste zu tun. Sowohl Gesangsstil wie auch rhythmisches Gerüst leiten sich eindeutig vom Reggae her, die Produktion ist typisch neu-britsch und Discotheken-orientiert.
Auf der dazugehörigen Culture Club-LP finden wir aber noch diverse andere Typen von rhythmischen Hintergründen, die sich musikalisch in alle möglichen. Richtungen auslegen lassen und deren einziger gemeinsamer Nenner tatsächlich ihre Tanzbarkeit und ihre Produktion sind.
Ahnliches gilt für Haircut 100, ABC, Spandau Ballett und viel andere Bands, die letztes Jahr die Tanzböden füllten.
Bei anderen Musikern dient der Tanz-Background für Jazziges, für Improvisation: in England muß man Rip, Rig & Panic dazurechnen, Pigbag, Maximum Joy; in den USA Defunkt, Flying Tigers, Prince Charles, James White und Material; in Deutschland kommt ansatzweise ähnlichesvon den Berliner Bands Zatopek und Flucht nach vorne.
Eine besondere Variante der weißen Szene und maßgeblich verantwortlich für die neue Tanzbarkeit war die zunehmende Perfektionierung und Einsetzbarkeit elektronischer Rhythmuserzeuger. Von der simplen Tock-Tock-Poch-Poch-Rhythmusmaschine, wie sie inzwischen fast jeder Hotelhallen-Pianist sein eigen nennt, bis zum Linn Drum Computer, den Heaven 17 und Human League benutzen, ist eine Vielfalt von künstlichen Drummern auf dem Markt, die die spezifische Rhythmik der elektronischen Tanzmusik bestimmt haben. ,Die ganze Bandbreite vom monotonen Minimal-Funk mit Sequencer und Simpel-Schlagzeug, mit dem DAF berühmt wurden, bis zum komplizierten Techno-Funk von Heaven 17 steht für eine neue Behandlung des Rhythmus-Problems und damit auch für neue Arten zu tanzen. Techno-Pop von Depeche Mode bis Human League verlangte mechanischere Bewegungen, weniger unkontrolliertes Wackeln und Schütteln, son-; dem abgemesseneres, im Grunde durchdachteres, ökonomisches Tanzen.
In diesem Bereich, bei der neuen Tanzbewegung, liegt auch das Revolutionäre an der schwarz-weißen Musik-Beziehung. Hatten bis dahin in der Pop-Geschichte sich stets die Weißen bei der schwarzen Musik bedient und die schwarzen Errungenschaften bestenfalls ausgebaut, so gab es diesmal auch erstmals den umgekehrten Vorgang. Human League, Depeche Mode, aber auch Kraftwerk oder DAF wurden inzwischen nicht nur ein, zwei Mal von schwarzen Radiostationen in den USA gespielt. Die neuesten Entwicklungen auf der Rap-Szene (vgl. letztes Heft) sind stark von elektronischen Rhythmuserzeugern und auch von Synthesizern bestimmt.
Noch mehr im Bereich der Tanzstile: Hier hat sich der roboterhafte „Electric Boogie“ und seine diversen Abarten auf den schwarzen Dancefloors durchgesetzt. Hier gibt es zum ersten Mal einen Austausch zwischen Schwarz und Weiß, der sich in der bisherigen Pop-Geschichte allenfalls bei Ausnahme-Erscheinungen wie Jimi Hendrix angedeutet hatte.
Entsprechend ist der Ausbeutungsvorwurf nicht mehr so kraß aufrecht zu erhalten, wie er in der Vergangenheit berechtigt gewesen sein mochte. Früher, etwa in der Swing-Ära des Jazz, beim City-Blues oder beim Rockjazz hatten Schwarze die Ideen – und die Weißen stellten die Stars.
Heute sind erstens die Weißen nicht mehr so völlig ideenlos; und die Schwarzen stellen erstmals in größerer Zahl Stars, die auch einem weißen Publikum etwas bedeuten.
Der Vorhut eines Bob Marley oder Stevie Wonder folgten Chic, Prince, Michael Jackson, die Comebacks von Marvin Gaye, Diana Ross, die Rap-Stars Kurtis Blow und Grandmaster Flash. Konzerte von Soul-Größen, die bis dahin in Europa höchstens von schwarzen GIs gefüllt wurden, sind heute mit New Wavern gut besucht (James Brown, Wilson Pickett). Marvin Gaye hält sich als schwarzer Interpret mit dem beinahe experimentellen „Sexual Healing“ schon seit Monaten in den US-Pop-Top Ten, wo bislang außer Michael Jackson, Kool & the Gang und Stevie Wonder allenfalls die weißen Versionen schwarzer Musik von Leuten wie Hall & Oates eine Chance hatten. Der berühmte US-Video-Künstler Nam June Paik sagte unlängst: „Man glaubt immer, die Macht der USA beruhe auf ihren Raketen und Atomsprengköpfen. In Wirklichkeit kontrollieren die USA die Welt mit der Musik ihrer Schwarzen.“
So weit ist es sicher noch nicht. Und noch wird die schwarze Musik gerade in den USA nicht so gewürdigt, wie sie es unabhängig von ihrer Qualität allein von ihrem musikalischen Einfluß verdient hätte. Die Stärke und der Einfluß der schwarzen Szene liegt aber auch zur Zeit weniger in ihren Hitparaden-Interpreten (von dem unglaublichen Einfluß, den das Marvin Gaye-Album MIDNIGHT LOVE und die Single „Sexual Healing“ schon wenige Monate nach ihrem Erscheinen gehabt haben, einmal abgesehen), sondern eher in den Erfindungen der unabhängigen Maxi-Szene, wo mit Rap und DJ-Musik, mit neuem harten Funk, mit seltsamen Mischungen, z.B. aus US-Funk und Jamaika-Produktionen, Euro-Pop und Bronx-Pop neue Ideen verwirklicht werden, dievor allem bei den weißen Musikern voll einschlagen.
Denn nichts ist zur Zeit für einen aufgeklärten Pop-Kenner wichtiger als über die Maxi-Szene informiert zu sein. Wer in London an entsprechenden Tagen in die einschlägigen Geschäfte geht, wird dort nicht wenige von seinen Lieblingsstars beim Wühlen wiedertreffen. Nachdem Wham mit dem „Wham Rap“ und „Young Guns Go For It“ und Malcolm McLaren mit seinen „Buffalo Gals“ als weiße Künstler auch erstmals auf der Szene der Rapper und Scratcher zumindest bescheidene Erfolge erzielt haben, wird auch dieses Feld in Zukunft für die weiße Pop-Musik wichtiger und einflußreicher werden. Methoden werden übernommen, und es wird niemand mehr mit dem bloßen Musik-Zitat zufrieden sein, wie etwa noch Blondie bei „Rapture“.
Neben der Funk Rap/DJ-Kultur wird Afrika und Lateinamerika die Tanzmusik der Europäer in den nächsten Jahren mit Ideen versorgen. Was mit Blue Rondo A La Turk in England und mit Kid Creole & The Coconuts von New York aus an die Oberfläche der Hitparaden gespült wurde, ist nur die Spitze eines Eisberges von Möglichkeiten, die die Kulturen der Karabik jenseits von Reggae zu bieten haben. Soca, die moderne Form des Calypsos, ist in den New Yorker Hip-Discos die neue Mode. Es gilt nun Lateinamerika für die weiße Pop-Szene zu „plündern“. Brasilianische Einflüsse jenseits von Samba werden jetzt erst langsam in Europa wahrgenommen. Die Trance-artigen Rhythmus-Schlachten der Batucada-Orchester könnten ähnlich auf weiße Pop-Trommler wirken, wie jamaikanische Dub-Musik auf die Produzenten gewirkt hat – oder wie die Erfahrungen mit afrikanischer Musik David Byrne und Brian Eno zu knakken gegeben haben.
Überhaupt Afrika! Als sich die europäische Pop-Presse mit Fela Anikulapo Kuti zu beschäftigen begann und ein Jahr später King Sunny Ade zum Afro-Star ausrief, wurde das von der Mehrheit der Pop-Konsumenten als exotisch belächelt. Heute verwenden von XTC bis Echo & The Bunnymen dutzende britischer Bands die verschiedensten afrikanischen Elemente.
Und was den New Yorkern durch ihre Puerto Ricaner und Lateinamerikaner die Salsa- und Soca-Mode ist, ist den Parisern dank der hohen Afrikaner-Frequenz in der Stadt seit neuestem eine entfesselte Afrika-Mode. In den Discos der französischen Hauptstadt bestimmen die afrikanischen Importe das Geschehen.
Es ist nicht nur sicher, daß die afrikanischen Musiker Bewußtsein und Tanzverhalten der westeuropäischen Jugend ähnlich verändern können, wie vor Jahren der Reggae Es steht außerdem zu hoffen, daß vielleicht erstmal in der Geschichte des Kulturaustausches Erste Welt – Dritte Welt, die Dritte Welt die erste beeinflußt und nicht nur als exotisches Kuriosum vermarktet wird.