„Wir sind alle auf dem gleichen Trip“
Wie die Happy Mondays für eine Saison den Namen ihrer Heimatstadt in "Madchester" änderten - und sich schließlich ganz und gar dem Hedonismus verschrieben.
Ab 23. November 1989 hieß die zweitgrößte Stadt des britischen Königreichs nicht mehr Manchester, sondern Madchester. So stand es auf der neuen EP der Happy Mondays: „Madchester – Rave On“. Am selben Tag fanden die Urheber dieser kuriosen Liedersammlung zum ersten Mal Einlass in den Tempel britischer Popkultur, das Studio von „Top Of The Pops“. In der Sendung traten auch die Stone Roses auf, mit ihrer neuen Single „Fool’s Gold“, ebenfalls eindeutig made in Madchester. Aus purem Übermut planten die beiden Bands, für ihre Auftritte die Drummer zu tauschen. Der Regisseur ließ sich das nicht bieten. Das ungewöhnlich nervöse Auftreten der öligen Moderatoren ließ später darauf schließen, dass hinter der Bühne noch andere … Dinge geschehen sein müssen.
Als dann dieser Shaun Rydersein „Hallelujah“ ins Mikrofon nölte, als stünde er vorm Spiegel und drückte sich die Pickel aus, war es um die Widerstandskraft der Nation geschehen. Die EP kletterte in den Charts bis auf Rang 19, „Fool’s Gold“-die erste Maxi in der Sammlung vieler britischer Indie-Kids – gar auf Platz acht. Fast gleichzeitig erschienen mit „Pacific“ (808 State) und „Move“ (Inspiral Carpets) zwei weitere stildefinierende Madchester-Stücke. A Guy Called Gerald hatte mit „Voodoo Ray“ die bestverkaufte Independent-Single des Jahres 1989 geliefert.
Doch erst an diesem 23. November wandelte sich „Madchester“ vom Geheimtipp für Indie-Touristen zum bevorzugten Ziel der Talentspione. Die grausige „Baggy“-Mode der dortigen Jugend – Kartoffelsack-T-Shirts, Windjacken und Elefanten-Jeans, an deren überlangen Stößen der Hundekot hing – wurde über Nacht auch die Uniform des trendigen London.
18. Januar 1990, Portobello Hotel, Notting Hill, vier Uhr nachmittags: Shaun Ryder ist noch immer glücklich verkatert und gibt ein Shaun-Ryder-Interview. „Wir sind Männer!“, rasselt es aus seiner Raucherkehle. „Wir kennen uns von Kindesbeinen an. Wir haben die Idiotenphase längst hinter uns gebracht, die Phase, wo man mit Messern aufeinander losgeht und dem anderen Ziegelsteine über die Rübe zieht und sich gegenseitig beklaut. Klar gibt’s heute noch genug Scheiße! Wir reden nicht um den Brei rum. ‚What the fuck are you doing, you dickhead!‘ So klingt das bei uns! Jeder Einzelne von uns ist gestandener Nordengländer! Wir legen die Gitarren weg und fangen eine Schlägerei an! Eine Stunde danach ist alles vergessen. Wir haben Schwein. Wir sind alle auf dem gleichen Trip.“
England Anfang 1990: Margaret Thatcher ist immer noch am Ruder. Sie hat aus einem Land von Exzentrikern, die verrückte Maschinen erfinden, und Studenten und Arbeitslosen, die Musik machen, statt zu studieren oder Arbeit zu suchen, ein Land der Finanzberater gemacht, die sauren Weißwein schlürfen und japanische Pseudoporsches fahren. Verlierertypen – zum Beispiel Musiker, die es nicht in die Charts schaffen – haben auf der Insel nichts verloren. Die Majorlabels regieren, die Independents pfeifen aus dem letzten Loch. Alternative Gitarrenmusik mit ihren traditionellen, romantischen Anti-Idealen gilt als freudlose Yesterday- Musik.
Aber es gibt ihn noch, den Underground. Jetzt heißt er „Rave“. Die Arbeitslosen, Studenten und Briefträger, die früher Bands gründeten, fühlen sich befreit: Sampler und anderes Schlafzimmerstudio-Equipment erlauben es ihnen, abends nach der schlecht bezahlten Maloche Musik zu machen. Diese Bastler haben den Housesound aus Chicago als Inspiration entdeckt und bei der britischen Jugend die große Tanzwut ausgelöst. Die wird mit Vorliebe in spontan besetzten Lagerhäusern auf Stadt und Land ausgelebt. Die Szene schert sich keinen Deut um Traditionen. Hedonismus ist in.
Das noch verbliebene Londoner Gitarrenhäufchen ist erschüttert. In Madchester hingegen hat man noch nie unter einem Anti-Tanz-Dünkel gelitten. Selbst Morrissey und Mark E. Smith nicht. Ja, sogar die trübste aller Trübsalbands, Joy Division, hatte sich nach dem Tod ihres Sängers der vergnüglichen Nächte in den Northern-Soul-Tanzhallen entsonnen und auf Tanzmusik umgepolt.
Manchester im Besonderen und Nordengland im Allgemeinen können sich von Thatcher nichts erhoffen. Nach uns die Sintflut – das ist der Geist (und der ist demgemäß ordentlich und anhaltend mit Drogen zu vernebeln). Und die Happy Mondays verkörpern ihn wie niemand sonst. Zwei Brüder – Shaun und Paul Ryder -, die sich früher mit Jobs bei der Post über Wasser gehalten haben, ehe sie feststellten, dass mit Dealen mehr zu verdienen ist. Dazu ein Gitarrist, ein Drummer, ein Keyboarder und Bez, der kein Instrument spielt bis auf seine Rumbakugeln, dafür tanzt wie ein Irrer und damit dem Publikum noch die letzten Hemmungen nimmt. Die ganze Meute selbstverständlich auf Drogen. Papa Ryder wohl ebenfalls – er ist Roadie der Band. Einem NME-Fotografen befiehlt er, seine Schamgegend abzulichten: „Hier, mein Freund, hier liegen die Ursprünge der Happy Mondays!“
Während Margaret Thatchers Administration Pläne schmiedet, wie man die stetig größer werdenden Raves gesetzlich unterbinden könnte, brechen in der Indieszene alle Dämme. Endlich ist es, „Madchester“ sei Dank, möglich, zu Gitarren zu tanzen! Ein Geniestreich! Quatsch: „Wir haben uns nie groß was überlegt“, sagt Ryder. „Wir hatten nie was anderes vor, als Rockmusik zu machen, zu der man tanzen kann. Wenn wir irgendwie originell klingen, dann nur deshalb, weil wir keine Ahnung hatten, wie man eine Anlage richtig aufstellt…“ 1984 aus purer Langeweile gegründet, hatten die Happy Mondays 1987 ohne größere Wirkung ein erstaunlicherweise von John Cale produziertes Debüt vorgelegt. Mehr Beachtung fand ein Jahr später Bummed (nicht zuletzt wegen der nackten, zwischen den Beinen rasierten Frau auf dem Innenumschlag).
Dann löst die „Madchester“-EP in den britischen Musikmedien den Overkill aus. Der NME widmet der Band im März und April drei mehrseitige Storys, in denen ihr Drogenappetit und all seine Konsequenzen im Ton atemloser Begeisterung beschrieben werden. Kein Wunder, dass die im März 1990 folgende Single „Step On“ – eine Version eines alten Hits von John Kongas – in die Top 5 einbricht.
Den englischen Sommer 1990 behängt man heute gerne mit einem Slogan, den die Überlebenden der Sixties erfunden haben: „Wer sich erinnert, war nicht dabei.'“ Einige heiße Monate lang stürzten die Mondays, ihre geistigen Reisegefährten Stone Roses und Dutzende andere Madchester-Bands (The Farm, The Charlatans, Inspiral Carpets, für eine Saison auch Primal Scream), denen große Labels teils nach zwei Wochen Proben Verträge nachwarfen, das ganze Land in Ecstasy-befeuerte Partylaune. Das gigantische Konzert der Stone Roses am 29. Mai auf Spike Island gilt als alles überragender Höhepunkt in einem Jahr voller (kurzlebiger) Höhepunkte.
Nach der „RaveOn“-EP fliegen die Mondays nach L.A., um (wieder mit Rave-Produzent No. 1, Paul Oakenfold) ihre dritte LP aufnehmen: Pills’n’Thrills And Bellyaches (1990). Derweil seziert die Boulevardpresse die Band: Polizistensohn Bez sei Ex-Straßenräuber! Die Ryders Drogendealer! Bei der CD-Taufparty im Londoner Zoo hätten Gäste eine Bank im Karpfenteich versenkt! Das Album schafft es auf Platz vier, aber über der Band kreisen die Geier; auch die Musikpresse meckert schon: „Die Happy Mondays sind keine notwendige Band mehr“, schreibt der Melody Maker. Erst 17 Jahre später wird der Kater richtig verflogen sein: Im Sommer 2007 gehen Tickets für Gigs der neu aufgelegten Happy Mondays bei Internetauktionen für dreistellige Summen weg.
Damals, im Rave-Herbst, sollte der Autor dieser Zeilen Shaun Ryder ein zweites Mal interviewen. Endlich holte ihn die Dame vom Label im Hotelfoyer ab, aber als sie ihn in das Zimmer führte, wo der Sänger vor zwei Minuten noch eine Zigarette geraucht habe, lag da nur ein Zettel mit einer hastig gekritzelten Nachricht: „Musste kurz weg.“ Madchester hieß von da an wieder Manchester.