Yin und Yang in Hollywood


Severin Mevissen s ist eine schaurig-schöne Szene: „Antoine, The Swan“ sitztauf dem Bett seiner sonnendurchfluteten Suite des Chateau Marmont Hotels am Sunset Strip in Los Angeles. Das Chateau Marmont ist berüchtigt. Dafür, dass sich dort John Belushi ins ewige Aus rüsselte, und dafür, dass zahllose Rockstars es als zweite Heimat und Herberge ihrer Exzesse wählen. Auch Antoine ist ein Rockstar. Ein Mikrofon steht vor ihm. Er setzt an zu singen, bricht ab – und weint hemmungslos drauf los. Ein großer, dicker, bärtiger Mann klopft ihm aufmunternd auf die Schulter, reicht ihm eine Tasse Ginseng-Tee, murmelt ihm ein paar aufmunternde Worte ins Ohr. Dann fasst sich der Schwan, reckt seinen Hals und singt ein wunderschönes, trauriges Lied …

„Antoine, The Swan“, das ist Anthony Kiedis, Leadsänger der Red Hot Chili Peppers, der – laut der zu Superlativen neigenden amerikanischen Musikpresse – „größten Rockband der Welt“. 39 Jahre alt, 80 Kilo schwer, sein muskulöser 1,78-m-Körper über und über tätowiert. Und die oben geschilderte Szene entspringt nicht etwa dem feuchten Traum eines RHCP-Fans, sondern der Realität. „Es stimmt“, bestätigt Kiedis. „Ich habe bei den Aufnahmen zu ,By The Way’mehr geweint als bei irgendeinem unserer Alben zuvor. Einen Monat habe ich mit Rick (Rubin, der bärtige Mann von vorhin und Produzent der Chili Peppers) in dem Hotel gearbeitet, und es war sehr, sehr emotional.“

Die Grunde dafür sind zum Teil banal, zum Teil liegen sie aber tiefer versteckt in der nunmehr fast zwanzigjährigen Geschichte der kalifornischen Band:

„Viele der Songs an denen Rick und ich im Hotel/eilten, stammen aus der Zeit vor meiner Trennung von meiner Freundin. Und als ich dann den Gesang aufnehmen sollte, kamen Erinnerungen an die drei Jahre mit ihr hervor. Nicht nur traurige, sondern auch glückliche. Alle sehr bewegend. Aber das war nicht der einzige Grund für meine Tränen: die neuen Songs reflektieren perfektden aktuellen Zustand der Band, sie sind voller Liebe. Und zwar nicht nurfröhlicher Liebe, sondern auch der Liebe, die aus einem dunklen Ort heraus wächst, aus Zeiten der Verwirrung, Verzweiflung und Depression .“ Und davon gab es im Leben der Chili Peppers genug. Zeiten, in denen Kiedis so kaputt von Drogen war, dass er das verdreckte Hollywood-Apartment, das er mit einer älteren Frau und deren jugendlicher Tochter teilte, nur kurz dazu verließ, um ein paar Habseligkeiten zu verkaufen, um die Kohle gleich anschließend „UnderThe Bridge“ gegen Drogen zu tauschen. Zeiten, in denen sich der damals 25-jährige Sänger freiwillig in die Obhut der Anonymen Alkoholiker begab; in denen sich der Ur-Peppers-Gitarrist Hillel Slovak den Goldenen Schuss setzte, und Nachfolger John Frusciante auf der Höhe des „Sex, Sugar, Sex, Magik“-Ruhms, gerade mal zwei Wochen vor ihrem Headliner-Gigbei Lollapalooza, das Handtuch warf, nur um anschließend sieben Jahre mit Heroin und dem Tod Tango zu tanzen. Zeiten, in denen Bassist Flea und Drummer Chad Smith von weiblichen Fans wegen sexueller Nötigung angezeigt wurden; in denen Frusciante-Nachfolger Dave Navarro und Kiedis wieder ihre alte Liebe für weißes Gift entdeckten und mit ihrem eigenen Blut kryptische Nachrichten an die Backstagewände von Konzerthallen schmierten. Zeiten, in denen Flea, geschockt vom Drogentod seines besten Freundes River Phoenix, einen Nervenzusammenbruch erlitt und bei ihm das Chronische Erschöpfungssyndrom (CFS -Chronic Fatigue Syndrome) diagnostiziert wurde; in denen Chad und Flea sich ihre Gräten bei haarsträubenden Motorradunfällen brachen. Zeiten, in denen die Red Hot Chili Peppers nichts anderes als drogenverrückte Funk-Punks zu sein schienen, die spärlich bekleidet mit Socken über ihren Pimmeln, Glühbirnen auf den Köpfen oder auch einfach mal komplett nackt – Derwisch-gleich zu ihrer Stakkato -Version von Jimi Hendrix‘ „Fire“ tanzten und somit die Höllenfeuer beim letzten Woodstock-Festival anheizten.

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„Genug, genug … , bremst Kiedis die Achterbahnfahrt durch die Peppers-Historie. „Ja, wirhaben all das erlebt, und noch Schlimmeres. Aber diese schwarzen Flecken definieren uns genau so wie die weißen, die Momente der Erlösung, die Augenblicke, in denen wir das Schlechte überwinden und Schönes kreieren. Es ist das ewige Spiel von Yin undYang, von Gut und Böse, Licht und Dunkel, das uns umgibt und ausmacht. Am Ende haben wir es noch immer geschafft, aus dem Schrecklichen heraus etwas Aufmunterndes, Wundervolles zu erschaffen.“ Ob nun wirklich jedes Chili Peppers-Album so wundervoll war, allen voran das komatöse’94-er „One Hot Minute“, bleibt dahingestellt. „By The Way“ jedenfalls, die neue Platte, die am 9. Juli herauskommen soll, scheint nahtlos an die vielversprechende und auf dem zwölf Millionen Mal verkauften 1999er Album „Californication“ dokumentierte Entwicklung der Peppers anzuschließen, weg vom hippeligen White-Trash-Funk, hin zum interessanteren, komplexeren song-lastigen Westcoast-Pop-Rock.

Zum Zeitpunkt der Interviews war das Album nicht komplett abgemischt, zwei bis drei Songs standen noch aus, und die Plattenfirma der RHCP – offensichtlich durch die zunehmende Internet-Piraterie verunsichert – gestand den Journalisten lediglich eine durch Geschwätz und hektisches Press-Junket-Treiben gestörte Hörprobe direkt vor den Interviews zu. Dennoch: was man dort hörte, war gut und originell. Songs wie „Lemon Trees On Mercury und „By The Way“, die erste Single, beeindrucken mit mehrschichtigen Klangwällen und melodiösem Vocoder-Gesang. „Cabron“ (deutsch: Arschloch), ist eine Tequila-seelige Sing-Mit-Flamenconummer straight out of dem hispanischen East L.A., und „Universally Speaking“ überrascht mit John Frusciantes tadellosem Harmoniegesang und- erstmals in der Geschichte der Chili Peppers – dem schamlosen, doch gleichzeitig Gänsehaut verbreitenden Einsatz eines Streichorchesters in bester Mancini-Tradition. Nurwo zum Teufel ist der Funk?

„Wo der Funk ist?“, wiederholt Kiedis die Frage.

“ Ohh, der Funk ist schon noch da, aber der Funk ist ein hinterlistiger Motherfucker, Er reißt nicht einfach ->

den Arm hoch und schreit .Hier bin ich!‘. Erschleicht sich heran und fährt dir in die Beine, wenn du es nicht erwartest. Der Funk wird immer unsere Inspiration bleiben, und in den drei Songs, die noch ausstehen, ist er auch deutlicher zu erkennen. Ein Song, der es nicht aufs Album geschafft hat, ist wahrscheinlich sofunky wie kein anderer, den wir je geschrieben haben. Aber es stimmt schon: Unser Sound hat sich stark geändert. Wir klingen jetzt eher wie eine moderne Rockband mit einem Schuss The Mamas ¿& The Papas.“

Haha, Mamas ¿& Papas, das ist gut“, lacht Rick Rubin am nächsten Tag auf Anthonys Vergleich angesprochen. „By The Way“ ist nach „Blood, Sex, Sugar, Magik“, „One Hot Minute“ und „Californication“ – das vierte Album, das der mythische Überproduzent (Beastie Boys,The Cult, Johnny Cash) und Labelboss (Ex-Def Jam, American Recordings) mit den Chili Peppers produzierte. Fast ein Jahr hat er mit der Band an den – anfänglich 50 – rohen Songs gefeilt. Und zwar nicht im paradiesgleichen Serting seiner alten Hollywood Hills-Villa, in der „Blood, Sex, Sugar, Magik“ entstand, bei dessen Aufnahmen ein ehemaliges Playboy-Playmate kochte, während unter dem Dachboden angeblich der Geist des vorherigen Bewohners, des Entfesselungskünstlers Harry Houdini spukte, sondern bei knochenharten Sessions in den Cello-Studios oder eben den oben erwähnten, tränenreichen Sitzungen im Chateau Marmont Hotel. Wenn also ein Mann beurteilen kann, inwieweit sich die Band entwickelt hat und wo sie heute steht, dann ist er es. „Sie sind erwachsener geworden, jeder Einzelne von ihnen „, urteilt er nach längerer Pause. „Sie sind introvertierter, spiritueller. Und dadurch, dass sie während der Californication-Tourso viel miteinander gespielt haben, sind sie als Band enger zusammengewachsen – sie sind super tight. Anthonys Texte sind viel persönlicher, rührender als früher. Sein Gesangsstil hat sich dementsprechend geändert. Er singt nicht mehr sofunky, sexuell angetrieben, sondern passionierter, aus der Tiefe seiner Seele heraus. Ich liebe seinen neuen Stil.“ Den größten Anteil aber am neuen Sound dürfte der alte, neue, ewige Peppers-Gitarristjohn Frusciante haben. „Oh Mann, lohn „, stöhnt Rubin darauf angesprochen. „Der hat wirklich seinen Horizont erweitert. Er hat ja schon bei ,Road Trippin ‚und ,Scar Tissue’gesungen, aber dieses Mal war er noch viel mehr involviert.Er hat Keyboards gespielt, all den Harmonie-Gesang übernommen … einfach unglaublich.“

Allerdings Unglaublich, bedenkt man, dass Frusciante erst 1998 seine schwere, mehrjährige Heroinsucht besiegte. „Wir alle waren total besorgt um ihn „, erinnert sich Flea an diese Zeit. „Wir dachten, er würde drauf gehen“ Aber Frusciante kam heil am anderen Ende heraus – und zwar stärker als zuvor. John war wirklich schlimm drauf, bestätigt Rubin. „Besonders nach der Trennung von der Band, so um 1995, als er mit seinem ersten Soloalbum, .Niandra Leides And Usually just A T-Shirt‘ rauskam. Damals verkaufte er

sogar all seine Gitarren und kümmerte sich einen Dreck um Musik. Heute ist es das Gegenteil. Ich habe noch nie jemanden getroffen, dem Musik mehr bedeutet als John. Er lebt Musik 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Wir sind 14 Stunden im Studio, dann geht er nach Hause und übt noch vier Stunden. Danach hört er wahrscheinlich Musik bis er einschläft und träumt den nächsten Song. Der Typ ist besessen, ein Verrückter. Ich glaube, seine Sucht hat ihn dazu gemacht. Die Lücke, die das Heroin hinterließ,füllt er mit Musik.“

Kiedis kann das aus eigener Erfahrung nachvollziehen, „Natürlich hinterlassen Drogen eine Lücke, richten Schaden an. Aber gleichzeitig tun sie auch Gutes. Gott segne Drogen und Alkohol, denn ohne sie wäreich nicht der, der ich heute bin, wüsste nicht, was ich mit mir anfangen soll. Es ist ein tolles Gefühl, wenn man Drogen für sich entdeckt, und eine Weile kann man auch gut damit leben. Aber dann schlägt es um, dann wird es hässlich und man sollte schleunigst damit aufhören. Leider habe ich das nicht gleich getan. Als ich dann aber damit aufgehört habe, war es das beste Gefühl, das ich jemals erlebt habe. Die neue Nüchternheit gibt dir noch mehr Inspiration und Energie als Drogen selbst -und das High hält länger an. Und was Johns Rolle beim neuen Album betrifft, kann ich Rick nur Recht geben. Johns Gitarrenspiel ist für mich das Bewegendste, was ich mir vorstellen kann. Ich nahm einfach auf, was immer er in seinem Hotelzimmer spielte, ging damit nach Hause und ließ die Songs zu mir kommen.“

John, mit 32 der jüngste Pep per, gab früher noch bereitwillig zu, ,40 bis 60 Prozent der Musik zu .Mother Milk‘ und ,Blood, Sex, Sugar, Magik’geschrieben zu haben „, heute verweist er lieber auf seine Bandkollegen. „Chad erfand völlig neue Rhythmen, wirklich harte, gute Beats. Zusammen mit meinen Einflüssen, Depeche Mode und New Order, ergab das den neuen Sound. Komplett frisch, das Beste, was wir je produziert haben. Ein Wunder.“So läuft der Chili Peppers-Motor wieder auf allen vier Zylindern, musikalisch ist die Band reiferund interessanter denn je, und auch privat sind die Vier glücklich miteinander wie nie zuvor. Anthony und J ohn, d ie nach Johns Ausstieg „höchstens noch telepathisch“ miteinander kommunizierten, sind wieder die dicksten Freunde. „Wir hatten unser Pow-Wow“, erzählt Anthony. „Wir setzten uns an einen Tisch, guckten uns tief in die Augen und mussten gar nicht mehr über den vergangenen Ärger reden. Wir sahen einfach die Freundschaft und Liebe, die wir füreinander empfinden und damit war die Sache gegessen.“ ]ohn war „schlichtweg überwältigt davon, zu was für einem feinen Charakter Anthony sich entwickelt hat.“ Selbst für ihren Ex-Gitarristen, Dave Navarro, haben die Peppers nur gute Worte übrig. „Dave ist ein begnadeter Musiker und ewig unser Freund“, meint Flea. Bei so viel Glückseligkeit wird einem fast mulmig, aber es kommt noch besser.

Die Vier sind echte Gutmenschen geworden.Anthony hat seinem Vater, dem Schauspieler Blackie Dammett (mehr oder weniger bekannt aus einigen „Charlie’s Angels“- und ,,Magnum“-Episoden) ein Drei-Hektar-Grundstück am Michigan-See gekauft. Flea verkaufte sein Haus „The Castle“ in Los Feliz für drei Millionen Dollar an den Öl-Baron John Getty, zog in ein kleineres Haus und eröffnete vom Gewinn das „Silverlake Music Conservatory“, eine Non-Profk-Musikschule für Kinder, in der alle Bandmitglieder (und ein Haufen anderer Rocker) unterrichten, wann immer der Terminplan es erlaubt. Auf dem Cover des Gourmetmagazines „Foodie“ wirbt die Band für „Gesunde Hausmannskost-auchfernab der Heimat“, und zwischen den Mahlzeiten füttern sie sich gegenseitig mit pflanzlichen Wundermittelchen wie der Alge Spirulina und dem Immunbooster Echinacin. Sie spielen zusammen Basketball, sie meditieren und stretchen zusammen vor den Konzerten. Naja, alle bis auf Chad Smith, den raubeinigen Troublemaker der Band, der auch weiterhin keine bessere Vorbereitung auf eine Show als „ein eiskaltes Heineken aus meiner Kühltruhe“ kennt. Also „tutto penis“, wie der Italiener sagt? Nein, nicht alles. Eines fehlt Anthony Kiedis zum vollendeten Glück: „Ich habe mit meiner Freundin Schluss gemacht, weil sie keine Kinder wollte. Ich aber bin jetztbereit für Kinder. Das ist das letzte Abenteuer, das es für mich zu bestehen gilt. Wo ich die Mutter dafürfinde, weiß ich nicht. Ich weiß nur, wo ich sie nicht finde: auf Parties im Playboy-Mansion oder auf Reizwäsche-Modenschauen. Vielleichtfinde ich sie im Supermarkt oder auf dem Flughafen. Aber ich finde sie ganzsicher- und zwar spätestens dann, wenn ich aufgehört habe, nach ihr zu suchen.“