Zappa und Jim


Ich lag auf der Couch, es war warm und die vorgezogenen Gardinen schützten nur spärlich vor der Hitze. Ich bemerkte, dass meine Zigarette fast abgebrannt war und drückte sie aus. Es war Sonntag und ich hasste die bonntage, seitdem Thomas nicht mehr kam. Ich war allein und wusste nichts mit mir anzufangen. Ich probierte, an nichts zu denken, griff nach dem Buch, das noch unberührt vor mir lag und versuchte zu lesen. Es gelang mir nicht. Meine Gedanken schweiften ab, ich sah, wie sich die Gardinen im Wind bewegten und fühlte die Wärme auf meiner Haut. Ich konnte mich nicht konzentrieren. „Ich muss hier raus“, dachte ich. „Wenn ich länger bleibe, fällt mir die Decke auf den Kopf“. Ich warf mein Buch auf die Erde und stellte mit Genugtung fest, dass der Knall für den Bruchteil einer Sekunde die Stille durchbrach. Draussen war es ruhig, wie jeden Sonntag. Die meisten Leute fuhren hinaus, auf’s Land. Das hatten wir auch immer getan. Doch dann, genau vor drei Wochen, rief mich Thomas plötzlich an und sagte: „Weisst du, meine Kusine ist gekommen, meine Eltern wollen, dass ich mich um sie kümmere. Das verstehst du doch?“

Ich verstand es nicht, zumal ich wusste, dass Thomas Eltern mich nicht mochten. Thomas war Juniorchef in der Firma seines Vaters und seine Eltern fanden mich nicht gut genug für ihren Sohn. Es passte ihnen nicht, dass ich allein in der Stadt wohnte und sie fanden meinen Beruf als Volontärin bei einer Zeitung nicht gut genug. Ich stand auf, zog meine zerschlissenen Jeans an und warf die Wohnungstür ins Schloss.

Die Fahrt nach Amsterdam

Als ich in meinem alten, gebrauchten VW sass und die Stadt längst hinter mir gelassen hatte, fühlte ich mich Lwohler. Ich hatte kein festes Ziel, wollte auch keines haben. Ich fühlte mich frei und ungebunden und genoss die Sonne, die meine Haut streichelte. Plötzlich musste ich bremsen. Zwei Kinder überquerten die Strasse. Ich hielt und blieb vor einem Jungen stehen, der sich am Rande der Strasse befand. Er hielt in der einen Hand einen Rucksack, in der anderen eine Korbtasche. Als er mich sah, packte er seine Sachen, kam auf mich zu und öffnete die Tür. „Das ist aber nett, dass du mich mitnehmen willst“, sagte er, grinste, und nahm ohne ein weiteres Wort neben mir Platz. Sein Gepäck warf er achtlos auf den Rücksitz. Ich antwortete nicht, weil es mir die Sprache verschlagen hatte. Ausserdem ärgerte ich mich, dass er so einfach zu mir stieg. Er hatte braune Haare, die ihm in Korkenzieherlocken bis auf die Schulter fielen. Seine Jeans waren noch zerschlissener als meine und sein Pullover schmutzig und voller Hundehaare. „Wohin willst du?“ fragte ich und duzte ihn. Schliesslich hatte auch er gleich du zu mir gesagt. „Ist mir egal“, sagte er. „Ich hab‘ kein festes Ziel. Wenn du mich wieder los sein willst, dann musst du mich rausschmeissen“. Er lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und pfiff leise vor sich hin. Dann drehte er das Radio an. Mit der linken Hand schlug er den Takt der Melodie mit, den rechten Arm hatte er zum Fenster hinausgelehnt. Schweigend fuhren wir zur Autobahn. „Ich heisse Jim“, sagte er unvermittelt. Ich nannte ihm meinen Namen. „Ist das dein Schlitten?“ Ich nickte. Plötzlich hörte ich hinten, auf der Bank, ein seltsames Geräusch. Ich drehte mich um und sah, wie Jim einen kleinen Hund aus seiner Korbtasche zog. Es war ein winziger Zwergpudel, höchstens ein paar Wochen alt. „Ich hab‘ ihn geschenkt bekommen‘, erklärte er und streichelte ihn. „Er ist sechs Wochen alt und heisst Zappa“. Zappa kletterte auf meinen Schoss und leckte mir die Hand. Ich liess ihn dort sitzen und strich ihm über das weiche Fell. „Wohin fahren wir eigentlich“, fragte Jim und ich zuckte mit der Schulter. „Keine Ahnung. Ich habe nämlich auch kein festes Ziel“. Jim lachte. „Das trifft sich gut“! Dann überlegte er. „Ich hab‘ eine dufte Idee. Lass uns nach Amsterdam fahren. Ich kenn‘ dort ein paar Leute und dies ist die richtige Autobahn!“ Er zog aus seiner Hosentasche zwei zerknitterte Zwanzigmarkscheine und gab sie mir. „Hier, dafür kannst du tanken“. Ich winkte ab. „Ich will dein Geld nicht, ausserdem hab‘ ich noch nicht ja gesagt“. Dann überlegte ich. Warum eigentlich nicht? Warum sollte ich nicht mit diesem fremden Knaben nach Amsterdam fahren? Schliesslich …, Thomas hatte mich alleingelassen und ausserdem hatte ich plötzlich Lust, etwas Verrücktes zu tun. „Okay“, sagte ich und zündete mir eine Zigarette an.

Das unbewohnte Haus

zwei Stunden später waren wir am Ziel. Dortmund liegt nicht weit von Amsterdam entfernt und die Strassen waren verhältnismässig leer. Amsterdam war sagenhaft schön. Es war abend geworden und die Stadt lag im Lichterglanz vor uns. Wir fuhren durch die engen Strassen, ich sah die vielgerühmten Grachten und schliesslich landeten wir vor einem Haus, das Jim anwies. „Hier ist es“, sagte er und wir stiegen aus. Das Haus war alt und schmutzig. Es sah unbewohnt aus, denn die Tür war mit Brettern vernagelt. Jim lief um das Haus herum und fand wirklich einen anderen Eingang. Wir stolperten zwei schmutzige Stiegen hinauf und gelangten in einen Raum, der nur durch zwei Kerzen erleuchtet wurde. Meine Augen mussten sich erst an das gedämpfte Licht gewöhnen, dann sah ich eine Gestalt, die auf uns zukam. Es war, wie ich später erfuhr, Dick, Jims Freund. Vor Jahren waren er und Jim in Amsterdam herumgezogen. Sie begrüssten sich freudig und ich stellte fest, dass Jim perfekt holländisch redete. Ich konnte der Unterhaltung nicht folgen. Dick hatte genau so lange Haare wie Jim und noch dazu einen Vollbart. Wir setzten uns auf eine Matratze, Jim gab mir Zappas Korb und ich streichelte den warmen Hundekörper. Das Zimmer war klein und schmutzig, aber es strahlte Athmosphäre aus. Ich fühlte mich wohl. Später kamen noch ein paar andere Typen, alles Freunde von Jim und Dick. Ich sass ein wenig abseits, ohne mich ausgeschlossen zu fühlen. Dicks Freundin setzte sich zu mir. „Wie lange lebt ihr hier schon?“ fragte ich. „Zwei Monate“, sagte sie. „Und wie lange bleibt ihr?“ Sie lächelte. „Weiss der Himmel, vielleicht ein Jahr, vielleicht aber auch nur ein paar Tage. Bis die Polizei uns hier wegjagt. Dieses Haus ist nämlich unbewohnbar. Trotzdem: uns gefällt es.“ Jim hatte eine Zigarette für mich angezündet und gab sie mir. Ich lächelte.

Abschied ohne Tränen

Zappa kam aus seinem Körbchen. Ich hörte ihn auf seinen kleinen krummen Pfoten durchs Zimmer laufen. Er kam und leckte mir die Hand. Ich wurde völlig wach und rieb mir die Augen. Ich wusste nicht, wie spät es war, denn es war noch nicht ganz hell. Dann warf ich einen Blick auf Jim, der neben mir auf der Matratze lag und musste lachen. Im Schlaf sah er ganz anders aus, viel jünger. Seine Locken fielen ihm ins Gesicht und sein Mund war geöffnet. Ich rutschte von meiner Matratze, sehr vorsichtig um ihn nicht zu wecken und schlich mich auf Zehenspitzen in die Küche. Dort wusch ich mir mein Gesicht und ging anschliessend mit Zappa spazieren.

Jim war bereits völlig angekleidet, als wir von unserem Spaziergang zurückkamen. Zappa lief auf ihn zu. „Ich dachte, du wärst schon zurückgefahren“, sagte Jim und lächelte. Wir tranken Tee und ich packte meine wenigen Habseligkeiten zusammen. Ich musste wieder zurückfahren, man hatte mich sicher in der Redaktion schon vermisst. Sorgen machte ich mir deswegen aber nicht, mir würde schon eine passende Ausrede einfallen.

„Ich bleibe hier“, sagte Jim plötzlich. „Was soll ich in Deutschland, mich erwartet dort doch niemand“. „Okay“, sagte ich. „Ich muss allerdings zurück“. Er brachte mich zum Auto. Der Abschied war kurz, wir wussten nichts mehr zu sagen. „Vielleicht bekommst du Urlaub“, meinte er. „Vielleicht“, antwortete ich und versuchte, so unbeteiligt wie möglich auszusehen. Jim kaute nervös auf seiner Unterlippe und gab mir plötzlich Zappa. „Hier“, sagte er. „Ich schenk ihn dir“. Plötzlich wusste ich, dass auch er mich mochte. Er hatte mir seinen Hund geschenkt, an dem er hing. Ich liess den Motor laufen, öffnete noch einmal das Fenster und gab ihm die Hand. „Ich werde wiederkommen“, sagte ich. „Ganz bestimmt. Vielleicht schon in ein paar Wochen.“ Ich gab Gas und schaute noch einmal durch den Rückspiegel. Es regnete und Jim stand im Regen und winkte. Zappa kroch auf meinen Schoss und blieb dort während der ganzen Fahrt.

Acht Wochen später fuhr ich wieder nach Amsterdam. Ich hatte Urlaub bekommen, später als ich geplant iatte, aber es war nicht zu ändern. Zappa sass auf meinem Schoss, ich hatte einen Koffer gepackt und drei Wochen Urlaub lagen vor mir. Einundzwanzig lange Tage mit Jim. Ich freute mich und sang laut während der ganzen Fahrt. Mit Thomas hatte ich damals Schluss gemacht, ich empfand nichts mehr für ihn und weinte ihm keine Träne nach.

Ich fand das Haus sofort, doch als ich die Haustür öffnen wollte, merkte ich, dass sie verschlossen war. Von Jim und Dick fehlte jede Spur. Ich wusste, es hatte keinen Zweck, ihn zu suchen.

Er konnte überall sein. Langsam lief ich wieder zurück. Zappa schmiegte sich an mich, so, als spürte er meine Traurigkeit. „Mir ist nichts geblieben“, dachte ich bitter. Jim ist weg und mit ihm all ineine Hoffnungen …“

Zappa sah mich aus grossen Hundeaugen an. „Doch“, dachte ich, „etwas ist mir geblieben. Zappa …“ Ich streichelte ihn und nahm ihn auf den Schoss. Gemeinsam fuhren „wir nach Haus.