55 Jahre MUSIKEXPRESS: Die Texte sind unsere Party


Wir feiern den 55. Geburtstag des MUSIKEXPRESS mit unseren 55 Lieblingsalben. Eine Einordnung.

55 Jahre MUSIKEXPRESS – was feiern wir da eigentlich? In erster Linie, dass dieses stolze Alter ein Manifest der Langlebigkeit von Popkultur ist. Wer hätte im Juli 1969 ernsthaft gedacht, dass man noch 24 Jahre nach dem damals unerreichbar wirkenden Sci-Fi-Jahr 2000 Musik oder eine völlig neue Kunstform nicht mindestens per Mikrochip im Gehirn wahrnimmt, sondern sich immer noch auf neue Alben und Singles freut? Und dazu noch/wieder auf Vinyl gepresste? Dass man keine Avatare von sich zu parallel stattfindenden Terminen entsendet, sondern seinen Kalender weiterhin um Konzerte herum plant? Dass man seinen Urlaub zur entfernten Verwandtschaft in der Mars-Kolonie nicht mit umgeschnalltem Raketenrucksack antritt, sondern wie gewohnt im Stau vor dem Festivalgelände steht, auf dem man den Sommer mit Bier und Ravioli aus Dosen vor einem Zelt verbringt? Und dass man doch glatt noch auf Shows von den Rolling Stones, von Paul McCartney, von Diana Ross, Joan Baez und Judas Priest gehen kann? An dieser Stelle sei daran erinnert, dass sich der 83-jährige Bob Dylan aktuell auf Tour mit dem 91-jährigen Willie Nelson befindet. „Hey hey, my my/ Rock and roll can never die“, wie Neil Young sehr richtig neun Jahre nach unserem Verkaufsstart festgestellt hat. Popkultur war kein kurzzeitiges Aufflackern, sondern ist ein unlöschbarer Flächenbrand, von dem wir uns anstecken lassen und an dem wir uns manchmal natürlich auch die Finger verbrennen. Das ist unser nächster Grund zum Feiern: gelebte Diskussionskultur!

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Natürlich haben wir in all den Jahren auch mal fett danebengehauen. Im Mai 1982 prophezeite der ME etwa Depeche Mode keine große Zukunft: „Natürlich hat jeder das Recht auf seine kleinen Pop-Gefühle, doch wer sich so angreifbar macht wie Depeche Mode, der wird uns auf die Dauer nicht allzu viel zu sagen haben.“ Über Blumfeld hieß es anfangs: „Kopfgeburten ohne Eier: Der Rock’n’Roll endet hier!“ Dass man darüber geteilter Meinung sein darf, ist ebenso wichtig wie das Einholen externer Ansichten: So urteilte im Januar 1993 Gastkritikerin Kim Gordon über Rage Against The Machine: „völlig uninspiriert. Die machen auf Nummer Sicher und verlieren dabei den ganzen Sex“. Dagegen stand die Vorhersage von Gastkritiker Ozzy Osbourne über Nirvana aus dem November 1991: „Diese Band wird noch vor Jahresende ganz oben sein.“ Tatsächlich sollte er sich nur um wenige Tage verschätzen: Erst am 11. Januar 1992 entthronte das Trio um Kurt Cobain den King of Pop, stieß Michael Jacksons DANGEROUS vom Platz 1 der US-Albumcharts und läutete damit eine Zeitenwende ein. Und auch wir lagen über die Jahre wohl eher richtig als falsch; so stand im Artikel über die erste Loveparade lakonisch: „Dance-Musik hat Massenappeal. Und wir brauchen Ekstase. Warum also nicht?“ Bei Tocotronic landeten wir ebenso einen Treffer: Ihre Single „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ habe „das Zeug, zum Anker aller Ziellosen in unserem Lande zu werden“. Das mit sensationellen sechs Sternen besprochene NACH DER VERLORENEN ZEIT schaffe es gar, „eine gänzlich neue Ära deutschsprachiger Musik einzuläuten“. Und nur als Randnotiz: Rammsteins Debütalbum HERZELEID wurde auf unseren Seiten mit einem Stern abgewatscht: „eindimensionale Blut- und Boden Analphabeten“. All diese Anschauungen abzubilden ist Teil unseres Selbstverständnisses. Sie sollen zu Diskussionen anregen, zur Bildung der eigenen Meinungen beitragen und Emotionen zulassen. Denn bei aller Theorie und allen Gedanken ist Musik doch zuallerallererst Herzenssache. Und das führt uns zum wichtigsten Bestandteil unserer Feierlichkeiten.

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Denn Kernstück unserer Jubiläumsausgabe sind 55 Platten, die uns die Welt bedeuten – ausgewählt von unseren Autor:innen und internationalen Popstars. 55 Platten für die einsame Insel. 55 Platten ohne die ein Leben möglich, aber sinnlos wäre. Von den Beatles zu Joy Division, von Kate Bush zu Helge Schneider. Ein Festival der Liebe. Wir danken allen Beteiligten und, ey, vor allem: euch! Ohne euch, die unsere Texte lesen, verinnerlichen und verreißen, wären diese 55 Jahre nicht möglich gewesen. Das ist uns, insbesondere in Zeiten der Printkrise, in der verdienstvolle Mitbewerber reihenweise vom Markt verschwinden, mehr als bewusst. Danke für eure Treue, euer Feedback und euren Input! Unser Bestes wollen wir tun, euch auch weiterhin viele Gründe zu geben, in freudiger Erwartung den Weg zum Kiosk anzutreten. Auf euch & die nächsten 55!

Euer Musikexpress