Utopia liegt anderswo
Williamsburg hat sich beim flüchtigen Blick aus dem Fenster nicht groß verändert. tv on the radio hingegen schon. Sie sind nicht mehr dieser Verband freischaffender Nachbarschaftsfreunde – und so klingen sie auch.
Tunde Adebimpe sagte einmal über die Musik seiner Gruppe, sie würde sich allen Schubladen entziehen. Was ihm sehr recht ist: „Sobald du etwas einen Namen gibst, könntest du ebenso gut einen Nachruf darauf schreiben.“ Zwar behaupten die meisten Künstler, dass ihre Arbeit unmöglich zu kategorisieren sei. Dass dies auf TV On The Radio aber tatsächlich zutrifft, merkt jeder, der einmal einen Ton der drei Alben Desperate Youth, Blood Thirsty Babes, Return To Cookie Mountain oder Dear Science gehört hat. Ist das nun experimenteller Rock? Freier Funk? Post-Hip-Hop? Gediegener Glamrock? Disco?
Ja. Genau. Alles zusammen. Es ist, als würde ein Kind mit verschiedenen Buntstiften kreuz und quer über die Landkarte des Pop kritzeln, hier eine Fläche schraffieren, dort ein paar Kringel setzen und manche Orte dick untersteichen. Williamsburg beispielsweise, jenes Szeneviertel im New Yorker Stadtteil Brooklyn, das in den vergangenen zehn Jahren unter anderem auch deshalb zum Szeneviertel wurde, weil es die Heimat von Künstlern wie TVOTR ist. Hier lernten sich Adebimpe, Kyp Malone und Klangmeister David Andrew Sitek kennen, in einem Loft von der Größe eines Supermarkts. Dort trafen die Ideen des einen auf das Equipment des anderen, weitere Verrückte stießen hinzu und das Projekt kam ins Rollen. Wenn Adebimpe und Sitek den Motor bilden, sind Jaleel Bunton und Gerard Smith die Stoßdämpfer und Räder von TV On The Radio – eine Rhythmusgruppe von Weltklasse, ohne die sich diese Gruppe wohl nie auch nur einen Zentimeter in Richtung Ruhm bewegt hätte.
Auf solche Komplimente reagiert der Perkussionist Bunton mit vergnügten Untertreibungen, als wir ihn am Telefon erwischen: „Ruhm? Warte, ich schau mal nach … nein, in der Küche sieht’s aus wie immer, das Geschirr ist nicht gespült … Moment … tja, mein Bett ist auch noch nicht gemacht, und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich immer noch die gleichen Leute und Autos auf der Straße.“ Dabei hat sich nachweislich viel getan in letzter Zeit. Die Mieten in Williamsburg sind für hungrige Poeten aus der Provinz längst nicht mehr zu bezahlen, TVOTR räumen weltweit Preise ab und füllen immer größere Hallen, Fans wie Karen O, Trent Reznor, David Byrne oder David Bowie stehen Schlange, um mitspielen zu dürfen – um dann, wie Bowie bei „Province“ (der zweiten Single des 2006er-Albums Return To Cookie Mountain), so tief im Mix zu verschwinden, dass ihre Beteiligung nur an den Credits abzulesen ist. „Aber es wird nicht alles besser, wenn alles besser wird, verstehst du?“, sagt Bunton sibyllinisch und meint damit vor allem zweierlei.
Erstens die Erkrankung seines künstlerischen Gegenübers, des Bassisten Gerard Smith. Das Management schärft Journalisten ein, auf keinen Fall eine Frage zu diesem Thema zu stellen, aber Bunton kommt selbst darauf zu sprechen: „Ja, er ist an Krebs erkrankt. Aber wie ich ihn kenne, muss sich eher der Krebs vor Gerard fürchten als umgekehrt.“ Zweitens der Umzug von David Sitek nicht nur in ein anderes Viertel, sondern in eine andere Welt: „Er hat jetzt dieses Haus in Beverly Hills“, erzählt Bunton: „Offen gestanden: Für mich wäre das nichts.“
Lebten die Aufnahmen für ein neues Album früher auch von all den Musikern aus der Nachbarschaft, die auf ein Bierchen oder eine kleine Jam-Session in Siteks Loft vorbeischauten, sah der Prozess beim fünften Studioalbum ganz anders aus: „In New York konnten wir kommen und gehen, wann wir wollten. Wir konnten nachts um zwei Uhr loslegen und morgens um sechs Feierabend machen, wann auch immer. So ließ sich Inspiration optimieren. In L.A. gab es feste Arbeitszeiten, was unsere Arbeitsweise vollkommen verändert hat.“ Außerdem wurde an Nine Types Of Light eher unter Ausschluss der Öffentlichkeit gewerkelt: „Ich mag das Album, das dabei herausgekommen ist, und es war eine interessante Erfahrung. Aber Los Angeles, das war für uns jetzt nicht direkt Utopia.“ So groß Los Angeles ist, so winzig war das Studio.
„Eigentlich war es aber wie immer“, beharrt Bunton: „Tunde und David bringen die Ideen ins Studio, und wir fangen an, damit zu arbeiten.“ Auffällig ist, dass das neue Material wesentlich ruhiger ist als die früheren Platten. Mehr Luft. Mehr Weite. „Ich glaube, dass wir alle etwas gelassener geworden sind“, räumt Bunton ein: „Ich habe auch das Gefühl, dass dies unser bisher zugänglichstes Album geworden ist. Geplant war das nicht. Wir hätten dieses Album vor zehn Jahren nicht machen können – unmöglich. Ich glaube allerdings nicht, dass wir gealtert sind. Wir mussten nur sozusagen erst eine gewisse Reife erlangen, um einmal mit dem Fuß vom Gaspedal zu gehen und subtiler zu werden, weniger bombastisch. Dazu braucht es auch Selbstvertrauen.“ Kann es sein, dass man also in jedes neue Album hineinwachsen muss? „Ja, aber du musst auch akzeptieren, welches Album da aus dir herauskommt.“
Während frühere Platten manchmal ausschließlich vom Tandem Bunton/Smith angetrieben wurden, ist die Rhythmussektion diesmal deutlich in den Hintergrund verbannt. Bunton widerspricht, aber letztlich nur der Formulierung: „Verbannt? Oh nein! Das musste so sein, damit die Songs richtig atmen können.“ Überhaupt sei es sehr erfreulich, wie selten es zur Kollision der großen Egos komme: „Wir verstehen uns nach wie vor alle ausgezeichnet. Es ist fast schon ein bisschen langweilig, wie spannungsfrei wir arbeiten. Vielleicht liegt es daran, dass es kaum Musik gibt, für die wir uns nicht interessieren und auch gegenseitig interessieren können.“ Bunton selbst hat zuerst Gitarre gelernt und kam dann durch seine Bewunderung für Leute wie Mitch Mitchell von der Jimi Hendrix Experience oder Jaki Liebezeit von Can zum Schlagzeug: „Alle meine Freunde hörten Hip-Hop, aber das Spannende ist doch, dass jede Musik dich zu anderer Musik führt. Durch Zeug wie LL Cool J oder Public Enemy kam ich zu Funkadelic und so weiter, das hört ja nicht auf.“
Entscheidend für die „musikalische Formel“ von TVOTR sei auch Radiohead. Ihr erstes in Eigenregie veröffentlichtes Album nannten sie OK Calculator, in spaßiger Anlehnung an OK Computer. Ernst war es ihnen aber mit der Haltung dahinter, wie Bunton sagt: „Als uns klar wurde, dass wir als Band zusammenbleiben werden, sagten wir uns: Elektronische Einflüsse sind nicht der Feind, elektronische Einflüsse müssen in unserer Musik zu Hause sein, weil es Musik für dieses Jahrhundert sein soll.“ Deshalb gibt es auch auf Nine Types Of Light viele Beats, deren synthetische Herkunft deutlich herauszuhören ist: „Es kommt darauf an, was man daraus macht. Ich bin kein fundamentalistischer Schlagzeuger, der nur Handgespieltes, das Ins-Mark-Fahrende und Energetische gelten lässt. Das wäre dumm. Loops waren schließlich das Einzige, was mich als Jugendlicher am Hip-Hop wirklich interessiert hat.“
Auf die Frage, warum alle Mitglieder von TV On The Radio oft einen so finsteren Eindruck machen, muss Jaleel lachen: „Ich weiß nicht, ob ich das erzählen sollte, aber: Ganz am Anfang unserer Karriere hatten wir ein Fotoshooting. Der Fotograf wollte uns zu so lustigen Sachen animieren. Ich sollte in die Luft springen, und so hat er mich verewigt: Mit beiden Beinen in der Luft und eentsprechend idiotischem Gesichtsausdruck. Ab dann schauten wir lieber immer ernst drein“
Kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe erreichte uns die traurige Nachricht, dass Gerard Smith seinen Kampf gegen Lungenkrebs verloren hat. „Wir werden ihn fürchterlich vermissen“, teilte die Band auf ihrer Homepage mit.
Konzertkritik S. 124, Albumkritik ME 5/11