Amy Winehouse 1983 – 2011
Die Verlorene
Die Stimme des Jahrzehnts ist tot. Was bedeutet das für uns?
Die Nachricht vom Tod der Amy Winehouse am 23. Juli 2011 hat die Welt auf eine Weise geschockt, die dann doch sehr überraschte. Jahrelang hatte sie sich auf einer grell ausgeleuchteten öffentlichen Bühne zerstört, vollgepumpt mit Crack, Kokain und Alkohol. Mehr als einmal musste sie gerettet werden, immer wieder, das Ziel dieser brutalen Schussfahrt schien völlig klar. Und doch. Und doch bewegte dieser Tod so viele, weil man schon an das ewige auf und ab der Amy Winehouse gewöhnt war, dass man gar nicht glauben wollte, dass es einmal wirklich zu Ende sein könnte. Weil man vielleicht gehofft hatte, dass ihr Talent sie immer wieder retten würde, weil es gar nicht sein durfte, dass so ein Talent durch so etwas profanes wie den Tod gestoppt wird. Dieser Unglaube über ihr Ende, die plötzliche Fassungslosigkeit brach sich Bahn in einem Sturm der Eilmeldungen, Twitter-Nachrichten, Facebook-Kommentare, Foreneinträge, der ersten Nachrufe, ungezählt alles, unzählbar. Denn die junge Frau war weltberühmt und weltberüchtigt, weshalb ein jeder, so schien es, eine Meinung über sie haben und äußern musste, viele davon so gewiss, dass es einem den Atem raubte. Angesichts dessen ist Ratlosigkeit vielleicht: die letzte Zuflucht, pure Notwehr, die einzig würdevolle Haltung.
Würde ist ja im Zusammenhang mit Amy Winehouse eine gerne verwendete Kategorie. Bei ihr, der sensiblen Obsessiven, eigentlich immer nur benutzt im Sinne eines vernichtenden: Würde verloren. In dieser Beurteilung waren und sind sich die Kunst- und Menschenfreunde des Boulevards und des Feuilleton, also des Boulevards der gehobenen Stände, eigentlich immer schnell einig. Wer sich lallend, torkelnd oder völlig abwesend und kaputt in der Öffentlichkeit zeigt, wer seine Verwundbarkeit in brutaler Selbstvergessenheit vorführt und sich einen Dreck um die Meinung der anderen schert, wer also alle normalbürgerlichen Kategorien von Anstand in lässiger Selbstverständlichkeit missachtet, der hat irgendwie seine Würde verloren. Das ist, man muss das einmal so deutlich sagen, ist ja die wahrscheinlich lächerlichste Kategorie aller Kategorien für die Beurteilung von echten Künstlern. Die eigene Langeweile, die eigene Beherrschtheit, die eigene Kontrollsucht als Maßstab, damit kann man freien Geistern wie Amy Winehouse natürlich nicht gerecht werden.
Und bevor wir uns noch ein bisschen mit dem auseinandersetzen, was leider zu oft und zu überwältigend ihr Bild geprägt hat, also auch damit auseinandersetzen, wie sie auch zu oft und zu stark sehr aktiv ihr Bild geprägt hat, weil sie ja viel weniger das Opfer war, als das sie immer gerne beschrieben wurde, bevor wir uns also mit diesem Schatten beschäftigen, der überlebensgroß an ihr klebte und sie immer mehr einzunehmen schien, wollen wir doch schnell ein paar einfache, große Wahrheiten ganz gelassen aussprechen:
Amy Winehouse war ein aus der Zeit gefallenes Ausnahmetalent. Eine große Stimme ihres Jahrzehnts. Ein echter Solitär, der für nichts anderes steht als für sich selbst. Sie ist nicht die Stimme ihrer oder einer Generation; noch nicht einmal die ihrer eigenen Biografie. Viel zu alt klang sie für ihr Alter, zu erfahren, zu abgeklärt, zu abgründig und mystisch. Sie hat wie kaum eine andere ihre Kunst mit dem Leben verwoben, ach, was heißt verwoben, es war eine Quelle, untrennbar, aus der sich ihre Kunst und ihr Leben speiste. Sie hat mit wenigen Schritten und einem nur als sehr übersichtlich zu bezeichnendem Werk sofort einen festen Platz im Olymp erklommen. Dort wird sie noch sitzen, wenn der ganze Zirkus um sie herum nur noch eine unklare Folie sein wird, vor der sie umso heller glänzt. Sie war eine jener Ausnahmeerscheinungen, die mit echter Kunst auch die Massen zum Tanzen brachte, mit einer Musik, die einst als Nischenwerk galt, als nicht kompatibel für den Mainstream. Diese Grenzen interessierten sie nicht, diese Grenzen sprengte sie, vielleicht durch Zufall, vielleicht mit Absicht, ganz bestimmt aber durch die Kraft ihrer Musik. Sie schuf damit einen dieser seltenen Pop-Höhepunkte der Einigkeit von Mainstream und Kritik, wenn der Zauber alle befällt und es nur Gewinner gibt.
Da war sie also, die Mainstream-Künstlerin mit ihrem Hang zum Exzess, der als Rock’n’Roll Lifestyle von außen mit lustvollem Voyeurismus bezeichnet und begleitet wurde, obwohl daran wohl gar nichts Rock’n’Roll war. Akribisch wurde verzeichnet, wann sie sich wo wieder wie brutal gehen ließ.
Aber wer also glaubt, mit Würde argumentieren und urteilen zu müssen, der kann natürlich mit unerträglicher Selbstsicherheit all die Gewissheiten in ihr Ableben hineinblasen in den Sturm, all die Mutmaßungen, all das Pathologisieren und Schuldsprechen, wahlweise der Sucht, des Ruhms, der Musikindustrie, der Medien, der falschen Freunde, des falschen einstigen Ehemannes.
Nichts davon kann Amy Winehouse allein umgebracht haben. Sie ist ja auch nur am Leben gestorben, so wie wir alle das irgendwann werden. Bloß nehmen sich die meisten mehr Zeit dafür.
Und bis dahin werden sie nicht so heftig gelebt haben wie Amy Winehouse das offenbar getan hat, so ist es festgehalten in unüberschaubar vielen veröffentlichten Bildern und Videos. Manche davon von demjenigen gemacht, den sie selbst eine Weile lang für die große, wahre, eine Liebe gehalten hat, so wurde sie jedenfalls in Interviews zitiert: Blake Fielder-Civil, früher Videoassistent, heute Sträfling.
In der Nacht vor der Veröffentlichung dieser Bilder und Videos aus der Digitalkamera Fielder-Civils entstand auch eine jener Geschichten, die so selten geworden sind im Popjournalismus. Kein Star, Management oder Plattenfirma würde dafür Einblicke und Zugänge gewähren. Vielleicht gab es auch niemanden außer Amy Winehouse, der ähnlichen Stoff geboten hätte, buchstäblich. Selbst diese Geschichte aber, aufgeschrieben hat sie die Reporterin Claire Hoffman für den amerikanischen „Rolling Stone“, verrät eigentlich nichts darüber, wer Amy Winehouse gewesen sein mag und warum sie tat, was sie tat. Der Text liefert, wenn man so will, nur weitere Indizien eines Lebens, das sich weder in der journalistischen Betrachtung erschloss noch in der Kunst. In ihrer Musik wollte man Wahrheit finden, vor allem in den Liedern der zweiten Platte Back To Black, dem herzzerreißendsten Liebesalbum der Nullerjahre, Amy Winehouses Opus Magnum. Das den Soul und Blues neuinterpretierte auch durch die kongeniale Co-Produktion Mark Ronsons, der mutmaßlich nicht mal selbst genau wusste, was er da tat. Denn mag er auch der größte Soulnerd der Welt sein, so wurde Back To Black doch auch deshalb erst so modern, weil es letztlich ein DJ-Nachbau von Soul war; wäre Ronson ein besserer Musiker gewesen (und Salaam Remi ein noch besserer Produzent, die Dap Kings aber eine schlechtere Soul-Backingband für die Aufnahmen), Back To Black wäre wohl ein musikalischer Abklatsch geworden.
Es war also die Nacht auf den 8. Juni 2008, einem Sonntag, ein paar Stunden zuvor hatte Tschechien mit einem 1:0 gegen die gastgebende Schweiz in Basel die Fußballeuropameisterschaft eröffnet, und ein paar Stunden später würden ein paar Millionen Briten beim Frühstück die Ausgabe der Sonntagszeitung „News Of The World“ aufschlagen und darin Amy Winehouse beim Drogennehmen betrachten können und anderen Tätigkeiten eher privater Natur, bis hin zum Absingen eines rassistischen Liedes, was Winehouse allerdings nach Aufforderung ihres noch recht frisch Angetrauten getan hatte – und in einem bedenklichen Zustand. Knapp hundert Bilder und ordentlich Videomaterial aus Fielder-Civils Digitalkamera hatte ein vorgeblicher Freund von Winehouse vorgeblich zu deren Warnung vor ihrem Ehemann an das Schmuddelblatt weitergeben, so dessen Erklärung für die Veröffentlichung. Es ist natürlich absoluter Zufall, dass ausgerechnet diese „News Of The World“ zwei Wochen vor Winehouse‘ Tod eingestellt wird – Genugtuung wird die Künstlerin nicht empfunden haben, dafür war ihr das Medienspiel wohl zu egal oder zu vertraut.
Um vier Uhr morgens wartete die Reporterin vor Winehouse‘ Bleibe in London mit der Paparazzimeute, als plötzlich die Tür aufging und Hoffman hineingebeten wurde. Die nächsten fünf Stunden verbrachte sie mit Winehouse und deren enger Freundin Remi Nicole in dem zugemüllten Haus, schrieb alles mit, was gesagt und getan wurde, dass Winehouse derangiert wirkte und alle halbe Stunde ins Schlafzimmer verschwand, offenbar zum Nachlegen von was auch immer. Als Hoffmans Notizblock voll war, gab ihr Winehouse neues Papier zum Weiterschreiben. Außerdem bat sie einen Paparazzo vor der Tür, den drei Frauen Bier zu kaufen, was der auch tat, dann aber das Geld dafür wiederhaben wollte, vergeblich, wie ein geprellter Pizzabote.
„Ich möchte mich so verlieben wie Amy“, sagte Nicole irgendwann, während sie ihre Freundin massierte, „ich glaube, ich war schon mal verliebt.“
Darauf hob Winehouse den Kopf und sagte: „Nein, nein, wärst du wirklich verliebt gewesen, dann wärst du jetzt tot, denn du bist doch nicht mit ihm zusammengekommen.“
Dann stand sie auf und ging in die Küche, währenddessen sich Nicole und Hoffman auf Winehouse‘ Laptop durch die vorab eingestellten Fotos auf der Website der „News Of The World“ klickten, darunter befand sich auch ein Blowjob-Bild, bei dem die beiden ihren Blick schamvoll abwendeten, und aus der Küche rief Winehouse, die der ganze Skandal um ihre Person nicht zu erreichen schien, im Gegenteil, die vor allem damit beschäftigt schien, das richtige Outfit für ihren Auftritt vor den Paparazzi zu finden: „Ich war nie lange in der Klinik, habe kaum ernsthaft entzogen. Ich bin jung, bin verliebt, und manchmal dröhn‘ ich mich zu. Aber es war nie soweit, dass ich dachte:, Amy, du musst dein Leben in den Griff bekommen.'“
Claire Hoffman hatte ihren Scoop, sie war drinnen gewesen, im Auge eines weiteren Amy-Sturms, nicht des ersten, nicht des letzten, nur des, wie sich zeigen sollte: vorläufig größten. Während alle Welt von außen zugeschaut hatte, halb angewidert, halb amüsiert, jedenfalls fasziniert von der fortgesetzten Selbstzerstörung einer jungen Ikone: Wir waren alle Augenzeugen, aus der Ferne.
Aber eine echte Geschichte hatte auch Hoffman eigentlich nicht, denn wie überraschend war es denn, dass Amy Winehouse‘ Selbstwahrnehmung so völlig anders war als das verheerende Bild, das sich die Welt mittlerweile von ihr gemacht hatte. Knapp zwei Jahre nachdem sie wirklich berühmt geworden war mit Back To Black. Man hätte allenfalls ins Grübeln kommen können darüber, ob Winehouse‘ Wahrnehmung bereits heillos eingetrübt war von all den Substanzen, mit denen sie ihren Körper traktiert hatte – oder ob ihre Sicht der Welt prinzipiell eine andere gewesen war. Schon immer, von Anfang an, und ob der Ruhm wider Erwarten und wider alle Klischees nichts daran geändert hatte, sondern nur an den äußeren Umständen: die plötzliche Aufmerksamkeit, die Verpflichtungen, das plötzliche Geld. Sie selbst sagte in Interviews, dass es ihr nie darum gegangen sei, berühmt zu werden; und dass sie eigentlich nichts mehr wollte als ihrem Mann eine gute Frau zu sein.
Doch wie ernst konnte, wollte man ihre Wortlaute nehmen, wo doch jedes ihrer Interviews (so viele waren es ja gar nicht) unter dem Vorbehalt stand, dass die Interviewte womöglich nicht ganz bei Sinnen und nüchtern war? Oder, das war eine von ihr selbst ins Spiel gebrachte Variante: War sie schon immer krank an der Seele, eine manisch Depressive, die nach eigenen Angaben jede medikamentöse Behandlung ablehnte? Warum schritt dann aber niemand ernsthaft ein und schützte sie vor sich selbst? Weil niemand ein Interesse daran hatte? Oder durfte man aus Prinzip nicht einschreiten, weil es schließlich Amy Winehouse‘ freie Wahl gewesen war zu singen? Denn alles, was darauf folgte – Ruhm, Aufmerksamkeit, Verpflichtungen und Geld – waren bloß Nebenwirkungen dieses Singens. Von den meisten Künstlern heiß ersehnte Nebenwirkungen.
Die Fragen kann man stellen, vielleicht muss man es sogar. Doch jede Antwort wäre Spekulation, und die Wahrheit, so es denn eine gibt, Amy Winehouse‘ Wahrheit: Die hat sie mit ins Grab genommen. Also lassen wir das. Und fragen besser: nach uns. Und danach, welche Funktion Amy Winehouse für uns hatte. Da muss man nicht spekulieren, und wenn doch, trifft es die Lebenden: Die können sich noch wehren.
Dass Künstler mit ihrer Kunst Projektionsflächen schaffen für die Phantasien ihrer Zuschauer und Zuhörer, ist wirklich nicht neu. Nur unwesentlich neuer ist, dass ihre medial vermittelten Leben außerhalb der Kunst, seien sie sorgsam inszeniert wie die Kunst selbst oder nur einfach so passiert, im Guten wie im Schlechten, als Lebenssurrogat von uns allen konsumierbar sind: Im besseren Fall wollen wir sein wie sie, die Stars, reich und schön und berühmt, im schlechteren sind wir froh, dass uns nicht widerfährt, was ihnen widerfährt. An den Stars und ihrem vermeintlichen Haben und Tun justieren wir immer wieder unsere Träume und Ängste neu. Wir ordnen unsere ethischen und moralischen Standards. Das ist die psychosoziale Erregungs- und Kontrollfunktion allen Klatsches, vom Gartenzaun bis zu den unendlichen Weiten des Internets. Wir vertreiben uns die Langeweile mit ihnen und den Erzählungen über sie, die vom Aufstieg und Fall und Wiederaufstieg handeln, vom Glück und Leid und Exzess und von der Grenzüberschreitung zumeist.
Das ist es, was den meisten von uns im Leben fehlt, leider oder glücklicherweise: die guten Geschichten, die harten. Und je intensiver und extremer erzählt wird, desto heftiger unsere Reaktion darauf. Ihre Hauptdarsteller werden erst dann zu wahren ersatzreligiösen, ja messianischen (Mit-)Leidensfiguren: Amy Winehouse hat stellvertretend für uns gelitten, gesoffen, gelebt. Damit wir das nicht tun mussten. Ist sie nun auch für uns gestorben?
Ihr Tod ist jedenfalls der größtmögliche Antiklimax in einer Geschichte, die Erlösung und Katharsis immerzu nur im Leben, nicht aber im Tod verspricht: das ewige Comeback.
Das Rettungslose, aber auch nervtötend Eintönige der letzten geradezu bewusstlosen Lebensjahre von Amy Winehouse, ihr endloses Stolpern und Fallen war schon ein Kontrapunkt zu allem, was sie durch Back To Black für ihr Publikum geworden war: Das Album funktionierte ja gerade in Winehouse‘ Texten als Trost für diejenigen, die vielleicht nie so heftig geliebt hatten wie die Erzählerin es ihnen vorsang. Gnadenlos konsequent auch gegen sich selbst und alle Vernunft. So groß kann also Liebe sein, das war die romantische Hoffnung für die Zuhörer; so furchtbar ihr Ertragen und ihre Überwindung, das war die Warnung. Dass es aber so furchtbar werden könnte danach, wenn die Liebe erst richtig losgeht, nicht in der Kunst, sondern im Leben, hat sich wohl niemand vorstellen können. Das war, als Amy Winehouse ernst machte mit dem Absturz in die Finsternis der Liebe.
Dass alles überhaupt so weit kommen konnte, hing mit einer akustischen Täuschung zusammen: Diese Stimme war zu abgeklärt und trainiert für ihre Besitzerin, zu erfahren für eine 22-Jährige, Amy Winehouse war ja noch ein blutjunges, aber eben nicht altkluges Mädchen bei den Aufnahmen zu ihrem zweiten, nun letzten Album vor fünf Jahren. Sie war, auch das ließ sie so einzigartig wirken, eines dieser irgendwie urwüchsigen, archaisch anmutenden Naturtalente, die aus dem Nichts kommen. Selbst wenn es die musische Ausbildung auf verschiedenen Theaterschulen gab, und den großen Menschenvermarkter Simon Fuller, der sie unter Vertrag nahm – um eine Gegenfigur zu denen aufzubauen, die er selbst ge- und erfunden hatte, all die braven, ehrgeizigen Gecasteten. Fuller wusste wohl genau: Die Sehnsucht des Publikums nach dem Authentischen, gerade in seiner extremen Form, ist eine vermarktbare Konstante. Amy Winehouse fegte alle von der Bühne. Als sie fertig war, buchstäblich, hatte sie den Weg freigemacht für den Neo-Soul und andere britische Frauen, die nicht so extrem, aber eben auch authentisch wirkten und von ihrem Leben sangen, dem nicht so extremen: Lily Allen, Duffy, Adele und immer so weiter.
Amy Winehouse war ein klassischer Systemfehler, der das System Pop erst funktionieren lässt. Eine wohlfeile Sinnestäuschung, die echt und glaubhaft wirkte. Auf dieser seit Elvis funktionierenden Basis schaukelten sich die Medien gegenseitig hoch und die Industrie konnte ihre jahrzehntelang gelernten Vermarktungs-Mechanismen ausspielen. Amy Winehouse war eine imposante Erscheinung, die uns lange vorgemacht hat, dass wahre Inspiration und echtes Leid sogar in Warenform überleben kann. Ein zynischer, ein fataler Trugschluss. Für das ganz große Spiel braucht es eben die Unberechenbaren mit dem Willen zur allerletzten Selbstausbeutung. Nur so lässt sich eine gewisse Berechbarkeit der allgemeinen Aufgeregtheit gewährleisten. Menschliche Unzulänglichkeiten füttern eine gefräßige Maschine. Letztlich ist Amy Winehouse, die die Nachwelt als Ikone der Popkultur führen wird, komplett außer Kontrolle geraten. Wir alle haben wider aller Vernunft lange an die Unschuld dieser Inspiration geglaubt. Ein verhängnisvoller Irrtum, dem auch Amy Winehouse selbst erlegen ist.
Mitch Winehouse
Besorgter Vater, Geschäftsmann und Musiker – Mitch Winehouse spielte irgendwann immer mehr Rollen. Mit zunehmendem Erfolg der Tochter wurde er auch noch zu ihrem Sprachrohr. Eine Personalunion, die fast zwangsläufig zu widersprüchlichen Aussagen führte. Irgendwann kippte diese Ambivalenz ins Negative. Zunächst vom Beschützerinstinkt geleitet, fütterte er uns in unregelmäßigen Abständen mit Informationen über Amys Gesundheit und kommentierte ihre turbulente Ehe mit Blake Fielder-Civil. Er lieferte immer wieder neue Angriffspunkte für die Presse, der er wiederum eine Mitschuld am tragischen Absturz seiner Tochter gab. Das enge Verhältnis zwischen Vater und Tochter bekam Risse. Die zunehmende Medienpräsenz von Mitch Winehouse führte zu Anschuldigungen, dass er selbst nur das Rampenlicht suchen würde, um seine eigene Karriere anzukurbeln. Behauptungen, die er stets von sich wies, ohne jedoch zu leugnen, dass ihm die vielen Angebote für TV-Auftritte und dergleichen auch schmeichelten. Ein Spaß-Faktor, den „Daddy’s Girl“ lautstark missbilligte und als Einmischung in ihre Privatsphäre betrachtete. Als ehemaliger Taxifahrer, der seinen Traum von der Gesangskarriere einst zugunsten der Familie aufgegeben hatte, verfolgte er dank der Höhenflüge seiner Tochter immer zielgerichteter seinen eigenen musikalischen Weg. Die Sorgen um die Drogeneskapaden der Tochter führten zu Panikattacken und bald war Mitch Winehouse nur noch ohne Taxi unterwegs. Mit Amys Unterstützung folgten Albumaufnahmen. Die Vater-Tochter-Bindung war nun nicht mehr rein privater, sondern auch musikalischer Natur. Vater und Tochter diskutierten über Songwriting. Die familiäre Kommunikation über Alkohol und Drogen erwies sich allerdings als weitaus schwieriger. Sie endete in einer Machtlosigkeit des Vaters, der irgendwann nur noch dabei zusehen konnte, wie seine Tochter immer weiter abrutschte. Hilflosigkeit und das Eingestehen einer Mitschuld an den Umständen führten letztlich zu einem öffentlichen Appell an das englische Parlament, die bestehenden Hilfsmaßnahmen für Drogensüchtige zu verbessern. Ausnahmsweise ein Schritt in Richtung Medien, der nicht dazu diente, sich selbst ins Scheinwerferlicht zu rücken. Vater Winehouse hatte sich doppelt verzockt. Die Crooner-Karriere blieb unerfüllt und die väterliche Zuwendung reichte nicht aus, um die Tragödie abzuwenden.
Forever Young – Willkommen im „Klub 27“ –
Wissenschaftler der Universität Liverpool fanden heraus, dass überdurchschnittlich viele Rockmusiker mit 27 Jahren sterben. Die Prominentesten sind im „Klub 27“ zusammengefasst.
Brian Jones (28.2.1942 – 3.7.1969)
Einen Monat nachdem die Rolling Stones ihren zweiten Gitarristen wegen anhaltender Drogenprobleme rausgeworfen hatten, wurde Jones tot in seinem Swimming Pool gefunden. Offizielle Todesursache: „Tod durch Missgeschick“.
Jimi Hendrix (27.11.1942 – 18.9.1970)
Das Gitarrengenie erstickte nach einer Nacht mit seiner Freundin Monika Dannemann im Londoner Samarkand Hotel an seinem Erbrochenen. In Hendrix‘ Körper fanden sich große Mengen Rotwein und Überreste von Schlaftabletten.
Janis Joplin (19.1.1943 – 4.10.1970)
Der Tourmanager ihrer damaligen Begleitband, der Full Tilt Boogie Band, fand die Hippie-Ikone tot auf dem Fußboden ihres Hotelzimmers in Los Angeles liegend. Nach offiziellen Angaben starb Janis Joplin an einer Überdosis Heroin.
Jim Morrison (8.12.1943 – 3.7.1971)
Der Doors-Sänger starb in der Badewanne seines Pariser Apartments. Offizielle Todesursache: Herzversagen, es wurde keine Autopsie durchgeführt.
Kurt Cobain (20.2.1967 – 5.4.1994)
Einen Monat nach einem ersten Suizidversuch in Rom wurde der Nirvana-Sänger in seinem Haus in Seattle mit einer dreifachen Überdosis Heroin und einem Kopfschuss aufgefunden.
Königin der Popzitate
ME-Modeexperte Jan Joswig über den Style der Virtuosin, die den Ernstfall suchte
Warum müssen Künstler heute noch für ihre Kunst sterben? Haben das nicht die vorherigen Generationen von Billie Holiday bis Sid Vicious stellvertretend erlitten? Nie war das Geschichtsbewusstsein in der Kultur größer als in der Postmoderne. In der Popmusik zitiert man seit den 80ern historische Stile, sei es als Sample im HipHop oder als Retrosound im Britpop. Ein zentraler Leitsatz politischer Aufklärung lautet: „Wer die Geschichte nicht kennt, ist gezwungen, sie zu wiederholen.“ Im Zitatzeitalter des Pop heißt es: „Wer die Geschichte kennt, ist so frei, sie zu wiederholen.“ In dieser Freiheit wird selbst der Blues, der Inbegriff vertonten Leidens, zu einem stilistischen Angebot, mit dem man ästhetisch spielen kann, ohne existentielle Konsequenzen ziehen zu müssen. Man muss dem Teufel nicht begegnen, um über ihn singen zu können. Man lauscht, wie die früheren Generationen ihn besungen haben. Authentizität, der Glaube, der Künstler müsse für seine Kunst mit seinem Leben bürgen, bedeutet in der Postmoderne Naivität. Das künstlerische Spielen zu verwechseln mit dem Ernstfall des Lebens, ist ein Missverständnis weniger abgeklärter Epochen, die „Genie“ nicht ohne „Aufopferung“ denken konnten. Schon der Tod von Kurt Cobain kam einem tragisch unzeitgemäß vor. Auf der Höhe der Zeit bewegt sich eine Sängerin wie Adele – eine stilistische Verwandte von Amy Winehouse -, die in ihrer Musik emotionales Ausgeliefertsein inszeniert, hinter der Bühne aber dieses Ausgeliefertsein als Produkt wie eine gewiefte Geschäftsfrau verwaltet. Oder Joaquin Phoenix, der einen tiefen existentiellen Sturz als runtergekommener Möchtegern-Rapper vorgibt, um die Pointe hinterherzuschieben, der vermeintliche Niedergang sei nur eine Rolle für die Quasi-Dokumentation „I’m Still Here“ gewesen. Popkultur ist Theater. Theater braucht keine Toten.
Jetzt muss die Popkultur Amy Winehouse betrauern. Dabei war Amy Winehouse eine Virtuosin im Spiel mit den Popzitaten, vom modischen bis zum musikalischen Styling. Sie holte 60s-Soul aus der Mod-Nische in den Mainstream. Dass ihr Retro-Soul mit Beehive-Frisur und 120-prozentigem Analog-Sound dabei nicht wie eine nostalgische Kostüm-Revue für gehobene Hotelbars wirkte, sondern die Wow!-Aktualität von scharfem Pop ausstrahlte, war ihrer Präsenz geschuldet. Den Exzess, die existentielle Übertretung bis zum Kontrollverlust hat sie als Teil des Popspiels immer mitthematisiert, am erfolgreichsten in „Rehab“. Zum romantischen Soul addierte sie die romantische Vorstellung von „Genie und Aufopferung“. Im Gegensatz zu Sternchen wie Britney Spears oder Lindsay Lohan jedoch, deren Absturz-Melodramatik aus dem Ramschregal zu stammen scheint, und die ihren Glamour aus Glasperlen aufzuziehen versuchen, dominierte bei Amy Winehouse das musikalische Genie die menschlichen Abstürze. Aber an der Realität der Drogen musste das virtuose Simulieren ihrer Retro-Musikerexistenz letztlich schnöde zerschellen. Drogen lassen das Theater scheitern und den Ernstfall beginnen. Warum Amy Winehouse den Ernstfall suchen und dem Teufel persönlich begegnen musste, bleibt ihr Geheimnis. Man hätte sich eine Pointe wie bei Joaquin Phoenix gewünscht.