Arbeitstiere


Jahrelang muckten Papa Roach im Untergrund. Inzwischen sind sie Weltstars - und mögen es gar nicht, wenn man an ihren Motiven zweifelt.

Wir gehen durch die Nasenlöcher rein und kommen aus den Ohren wieder raus.“ Nein, falsch getippt – der das sagt, ist kein Chirurg und will seinem Patienten folglich auch keine Kanüle durch den Schädel treiben – nur eine Kamera. Joseph Kahn dreht nämlich Pop-Videos, und zwar für ein ziemlich buntes Klientel. Er setzte Teenie-Größen wie Britney Spears („Stronger“) oder die Backstreel Boys („Everybody“) in Szene, kennt sich spätestens seit Sisqos „Thong Song“ auch im Sex-Rap-Cenre aus, kann aber offenbar auch der Elektro-Abteilung etwas abgewinnen, denn schliesslich stammt das Video zu Mobys „South Side“ ebenfalls von ihm.

Und jetzt steht eben dieser Joseph Kahn in einem Studio in Los Angeles und erklärt vier jungen Männern, wie er deren neue Single „Between Angels And Insects“ visuell umzusetzen gedenkt: Mittels einer ausgeklügelten Computersimulation plant er eine abenteuerliche Fahrt durch ihre Eingeweide (was dem Begriff „Insider“ eine völlig neue Dimension verschaffen dürfte), während sie gleichzeitig bei der Performance ihres Songs gefilmt werden. Weil letzteres nun wirklich nicht neu sei, habe er sich halt Alternativen überlegt, sagt Kahn, dem an diesem Januartag viel daran gelegen ist, in seinem neuen Werk die ungeheure Vitalität seiner Kunden ohne Abstriche rüberzubringen: „Eine junge, hungrige Band. Sie stecken eine Menge Energie in ihre Shows und bewegen sich auf der Bühne in einer Art und Weise, die den meisten von uns einen ausgerenkten Nacken bescheren würde.“

In der Tat kennen Papa Roach kein Pardon, wenn sie ihren Rap’n’Roll zelebrieren: Coby Dick und Konsorten gehen voll zur Sache, druckvoll und aus dem Bauch heraus direkt in die Beine. Diese Mischung zieht: Von ihrem Major-Debüt „Infest“ verkauften sich bis dato weltweit über drei Millionen Kopien (davon um die 600.000 in Europa), und spätestens seit der ersten Single „Last Resort“ ist für die Kalifornier nichts mehr wie ehedem: Nach jahrelangem mehr oder weniger erfolglosen Wühlen im Rock-Untergrund sind sie den renommiertesten Musikzeitschriften rund um den Globus plötzlich Titelstories wert, ihre Konzerte sind mit schöner Regelmässigkeit ausverkauft, und jetzt sind sie gar für zwei „Grammys“ nominiert, als „Beste neue Gruppe“ und für das Video zu ihrer zweiten Single „Broken Home“. Vor diesem Hintergrund kann es Sänger Coby Dick kalt lassen, wenn ihm und seinen Freunden unterstellt wird, sie seien ein künstliches Produkt ihrer Plattenfirma, die mit P-Roach lediglich auf der momentan ach so erfolgreichen Rap & Rock-Crossover-Welle habe mitschwimmen wollen. „Bullshit“, sagt Coby dazu: „Was uns von diesen ganzen Rap-Rockern unterscheidet, ist unser punkiger Biss. Nun werden manche sagen, Papa Roach seien alles, nur kein Punk, aber Punk bedeutet, man selbst zu sein, die Dinge selbst anzugehen. Punk heißt Leidenschaft, Herz und Seele. In uns ist all das.“

Bassist Tobin Esperance geht noch einen Schritt weiter: „Es regt mich auf, dass uns jeder in diese Kategorie stopft. Wir sind so viel mehr, in unserer Musik stecken so viele verschiedenartige Elemente. Madonna hat mich wahrscheinlich mehr beeinflusst als Lirnp Bizkit, verstehst du? Klar ist Fred Durst ein cooler Typ, aber die machen ihr Ding und wir unseres. Im Prinzip sind wir eine Rock’n’Roll-Band: Gitarre, Bass, Schlagzeug, Gesang, geradeaus, roh und verdammt lebendig.“ Von daher erklärt sich auch das P-Roach-Credo, das da heisst: Rausgehen und sich so dermaßen zu verausgaben, dass man hinterher nur noch völlig fertig nach Luft schnappt und kaum noch in der Lage ist, sein Glas zu halten. Nein, eine schnittige „Radioband“ wollten die Vier nie sein – auch wenn ihre Mega-Single „Last Resort“ ihnen ungeahnt viel Airplay bescherte. „Wenn eine neue Band binnen einer Woche 10.000 Kopien verkauft, dann ist das richtig gut. Wir schafften so viele gleich am ersten Tag, als ‚Infest‘ draußen war, und hatten am Wochenende 30.000 Stück abgesetzt. Und wir dachten: heilige Scheiße!“, macht Jerry klar. „Es ging alles sehr schnell, aber alles ganz natürlich“, ergänzt Partner Tobin: „Als die Platte erschien, hatten wir keine Ahnung, was passieren würde. Es gab keinen Masterplan mit dem Ziel, möglichst umgehend eine Art Pop-Sensation zu werden. Ich meine, wir hatten den Kram immerhin schon sieben Jahre lang gemacht!“

Papa Roach kommen aus Vacaville, einem für US-Verhältnisse kleinen Nest zwischen Sacramento und San Fransisco, das allen Ernstes von sich behauptet, die Zwiebelhauptstadt der Welt zu sein. Wer sich hierher verirrt, hat sich entweder aut dem Weg ins nahe Napa Valley verfahren oder will einen Angehörigen besuchen, der im örtlichen Gefängnis sitzt. So verwundert es nicht sonderlich, dass Vacavilles Nachtleben nicht unbedingt das Prädikat „aufregend“ verdient. Mehr noch: „Es war nichts los bei uns zu Hause, rein gar nichts“, erinnert sich Tobin. Und ergänzt: „Deshalb gründeten wir eine Band.“ Deren Anfänge reichen bis ins Jahr 1993 zurück, als die beiden 16jährigen Schulfreunde Jacobv Shaddix (der sich Hart im Geben

späterden Künstlernamen Coby Dick zulegen sollte) und sein Kumpel David Buckner begannen, in der Garage von Davids Elternhaus zu jammen. Zunächst ist die Mischung vogelwild: Posaune, Schlagzeug, Bass, Gesang – und man covert mit „Fire“ ausgerechnet einen der populärsten Hendrix-Songs. „Unfassbar“, kommentiert lerry Horton das: „Die spielten wirklich eine Nummer des absoluten Gitarrengottes, und das ohne Gitarre! Das muss man sich mal vorstellen!“ Aber es dauerte nicht lange, da wurde Industrial Metal-Fan Jerry – damals 18 – schon beackert von Coby und Konsorten, ohne dass lerry sonderlich gezogen hätte: „Ich habe ihm gesteckt, dass es vermutlich nicht funktionieren wird. Aber er meinte: ‚Komm trotzdem mal vorbei.‘ Also packte ich meine Gitarre ein und ging hin. Am Ende unserer Testsession klangen wir so wie Primus, und weil ich gerade nichts Besseres zu tun hatte, sagte ich: Okay, Jungs, ich mache mit!“ Am Anfang treten Papa Roach bei privaten Feten auf, spielen in Garagen und Wohnzimmern. Als bei diesen Feten immer häufiger unbekannte Gesichter zu sehen sind, reift in der Band die Erkenntnis: Wir haben offenbar Fans. Und deren Hunger will man bedienen, weshalb im Jahr 1995 der erste PR-Tonträger erscheint. Er trägt den Titel „Caca Bonita“, erscheint auf dem bandeigenen Onion Hardcore-Label und enthält nach Cobys Worten mit „Potatoes For Christmas“ „den schlimmsten Song, den wir je aufgenommen haben“. Auch lerry würde rückblickend lieber den Mantel des Schweigens über diesen Erstling breiten, bei dem noch Will James den Bass bediente. Immerhin: Die „Weihnachts-Kartoffeln“ verschaffen der Band zahlreiche Gigs in Berkeley, San Francisco und Santa Rosa. Doch zwei Tage vor einem Konzert in Los Angeles, von dem sich die junge Formation den großen Durchbruch erhofft (by the way: Er wird es mitnichten sein), erklärt Will, dass er nicht mitkommen, sondern lieber ein von der Kirche veranstaltetes Zeltlager zu besuchen gedenke. Die Folge: Ersatzmann Tobin, ein Fan-Roadie-Zwitter, der zuvor schon mehrfach eingesprungen war, bekommt einen fünfsaitigen Bass in die Hand gedrückt mit der Maßgabe, sich das relevante Songmaterial binnen zwei Tagen draufzuschaffen. Den voll auf Flea von den Chili Peppers stehenden Band-Youngster hatte sein Vater geimpft: „Wenn du ein guter Basser sein willst, musst du dir Sly & The Family Stone anhören.“ Der Junior tat’s – und stellte erstaunt fest, wo sich sein Idol ganz offenbar seine Inspirationen geholt hatte.

Mit Tobin verändert sich der Papa Roach-Sound nicht unwesentlich. „In Vacaville gab es einige Funk-Bands“, erinnert er sich, „und es gab einen Haufen Punkrock, so Emo-melodisches Zeug. Aber wir waren diejenige Gruppe, die all das zusammen spielte – weil wir uns wirklich mit allem möglichen Kram beschäftigten: Punk, HipHop, Hardcore, Reggae, lazz. Coby beispielsweise zog sich dauernd Frank Sinatra rein, und wir wuchsen auf mit den Chili Peppers, Faith No More, Bad Religion, den Pixies oder Fugazi, diesem ganzen coolen Scheiß.“ Im unerschütterlichen Glauben an sich selbst veröffentlichen Papa Roach im Februar 1997 eine weitere Independent-CD, „Old Friends From Young Years“: 13 Tracks, mit einem 700-Dollar-Etat eingespielt. Auf einmal laufen die Papa Roach-Songs auch im lokalen Radio, mehr noch: Das Quartett steht wochenlang auf den Wunschlisten der Hörer ganz oben. Lind es darf auch schon mal für Größen wie die Suicidal Tendencies den Anheizer machen. Im April 1998 wird „Eive Tracks Deep“ nachgeschoben, eine E.P., die zwar binnen eines Monats immerhin 1000 Einheiten verkauft, aber das Blatt noch nicht wirklich zu wenden vermag.

Das passiert erst, als 1999 die EP „Let ‚Em Know“ erscheint, denn nun zeigt eine große Company Interesse. Zu diesem Zeitpunkt „hatte so ziemlich jedes Label, das du dir vorstellen kannst, schon mindestens eine unserer CDs aus dem Fenster gefeuert“, amüsiert sich Tobin heute rückblickend. Dumm nur, dass für Papa Roach bei Warner Bros, zunächst doch nur ein Demodeal drin ist. Immerhin schickt der Branchenriese die Band mit Star-Produzent Jay Baumgardner (u.a. Slipknot) ins Studio, wo sie fünf Songs einspielen darf. Dann aber wird ausgerechnet jener A&R-Mann bei Warner, der auf P-Roach aufmerksam geworden war, gefeuert, und damit platzt der Warner-Deal. Doch nun greift mit DreamWorks eine andere Company kurzentschlossen zu, und schon stehen die rockenden Schaben mit Baumgardner erneut im Studio. Die Zielvorgabe ist klar: Möglichst viel von der rohen Energie der Band auf die Platte zu bringen, sie trotz aller Studiomöglichkeiten noch nach Bühne klingen zu lassen. Dazu Tobin Esperance: „Das ganze Album marschiert ziemlich nach vorne, um nicht zu sagen voll in die Fresse. Lins ging es darum, jeweils einen Rhythmus zu finden, der mitreißt, und dann Melodien draufzupacken, die das Ganze spannend machen.“ Und Jerry Horton liefert die Details: „LJm die Angelegenheit möglichst interessant zu gestalten, packten wir auf die Songs ziemlich viele Overdubs drauf. Aber wir achteten darauf, sie so einzustreuen, dass die Leute sie im Konzert nicht vermissen würden.“

Die rockenden Schaben legen nämlich nach wie vor großen Wert auf die Feststellung, dass sie in erster Linie eine Live-Band sind: „Das ist die beste Art, sich uns reinzuziehen. Im Radio gespielt zu werden ist ganz nett, aber wenn der ganze Rummel um uns morgen vorbei wäre, bliebe uns immer noch unsere Show“, weiß Coby Dick. Nur sind die Hallen inzwischen ungleich größer als früher, was der eminent tourfleissigen Truppe gelegentlich nostalgische Momente beschert. Gitarrist Jerry kann sich in diesem Zusammenhang noch gut an diesen Winz-Club in Colorado erinnern: „Der hieß ‚Lion’s Lair‘ und fasste ungefähr 100 Leute. Als wir im März 2000 das erste Mal dort auftraten, waren zehn Personen drin, und ganze zwei waren wegen uns gekommen. Im Oktober spielten wir im Zuge der ‚Anger Management Tour‘ mit Eminem und Limp Bizkit wieder in Denver, diesmal vor 20.000 Zuschauern. Verrückt, nicht?“

Mit derart veränderten Rahmenbedingungen haben Papa Roach keine Probleme, mit dem Dauertouren schon. Am ersten Tag ihres erneuten mehrwöchigen Europatrips, im finnischen Helsinki, bekennt Coby, kurz vor Weihnachten so etwas wie einen mittelschweren Koller gehabt zu haben: „Ich heulte einfach los, war am Ende, gestresst vom permanenten Leben on the road und von dem LImstand, quasi nicht mehr über mich selbst bestimmen zu können.“ Die Kurve gekriegt hat er damals erst wieder auf der Bühne, beim direkten Kontakt mit den Fans. Die sind und bleiben für P-Roach immens wichtig: „Früher, als wir noch nicht so bekannt waren, war es einfacher, jemanden kennenzulernen“, sagt Tobin. „Inzwischen sind so viele Leute um uns mm, da kannst du dich nicht mit jedem abgeben. Das ist eigentlich schade.“ Da ist sie wieder, diese Bodenständigkeit, die sich das Quartett um jeden Preis erhalten will. Und lerry weiß auch warum: „Bevor das alles passierte, waren wir alle nicht gerade wohlhabend; du weißt schon, diese übliche klischeebeladene Geschichte von der brotlosen Kunst. Wir haben uns den Arsch abgearbeitet, um dahin zu kommen, wo wir jetzt sind, und das ist der Grund, warum wir unseren Erfolg so zu schätzen wissen.“ www.paparoach.com