Aus der Musikexpress-Ausgabe Juli 1975: Hauptschulabschluss – Was nun?
Hauptschulabschluss und was nun? Die vergangenen Monate waren ausgefüllt von der Suche nach Ausbildungsplätzen, und zwar in diesem Jahr mehr als je zuvor unter erschwerten Bedingungen. Den Schritt ins Berufsleben wollen jedoch nicht alle Schulabgänger sofort auf sich nehmen. Ingrid und Marion, beide 15 Jahre alt, werden auf jeden Fall weiterbildende Schulen besuchen — im Gegensatz zu zahlreichen anderen Altersgenossen, die aufgrund mangelnder Information annehmen müssen, nach der Hauptschule müsse zwangsläufig der "Ernst des Lebens" folgen.
Ingrid will auf jeden Fall einen kaufmännischen Beruf ergreifen. Auf der Schreibmaschine ist sie schon fast perfekt – das hat sie sich nebenbei angeeignet. Unschlüssig war sie nur, ob sie sofort mit der Ausbildung beginnen soll oder lieber doch noch weiter die Schulbank drücken soll. Die Beraterin vom Arbeitsamt hatte bei ihrem Besuch im achten Schuljahr die Adresse der Bildungsberatungsstelle angegeben, die unentschlossenen Schulabgängern weiterhilft. (Die Anschrift kann man bei jedem Arbeitsamt erfragen.)
Der Ausbildungsberater hilft weiter
Der Ausbildungsberater Dr. Wolfgang Schulz-Olden konnte ihren Entschluß nur unterstützen: „Die Ansprüche, die jeder Berufszweig stellt, sind mittlerweile stark angewachsen. Bisher waren die Vorbereitungen leider nicht qualifiziert genug. Die Chancen, einen Beruf seiner Wahl zu ergreifen, steigen natürlich, wenn man länger zur Schule geht.“ Und: „Auf jeden Fall hat sich die Ansicht überlebt, daß es von Vorteil sei, möglichst schnell Geld zu verdienen! In Zukunft wird es noch mehr als heute auf den Schulabschluß ankommen!“
Größere Chancen mit Fachoberschulreife
Trotzdem gibt es noch heute genug Eltern, die nicht bereit sind, ihren Kindern weitere Schuljahre zu ermöglichen. Ungeachtet der Tatsache, daß ihren Kindern durch diese Kurzsichtigkeit ungeahnte Nachteile erwachsen können, bestehen sie darauf, daß erst einmal Geld verdient wird.
Ingrids Eltern waren jedoch erleichtert, als sie sich schließlich für die Handelsschule (heute: Berufsfachschule der Wirtschaft) entschied. Die Schule dauert zwei Jahre. In dieser Zeit bereitet sie die Schüler auf eine Tätigkeit in Wirtschaft und Verwaltung vor. Dr. Schulz-Olden: „Hier werden natürlich nicht nur trocken Buchführung, Steno und Schreibmaschine gelehrt. Wichtig ist, daß die Schüler auch mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen konfrontiert werden. Nach erfolgreicher Abschlußprüfung erhält der Schüler die Fachoberschulreife (früher: Mittlere Reife). Jetzt sind die Möglichkeiten, sich für einen Beruf zu entscheiden, nicht nur wegen der größeren Substanz, wegen der besseren Vorbildung einfacher — nach zwei Jahren ist man einfach reifer geworden und hat mehr Informationen in der Hand. Außerdem sind sich 15jährige der Tragweite ihrer Berufswahl wahrscheinlich noch lange nicht so bewußt wie zwei Jahre später. Der Berater: „Der erfolgreiche Besuch einer öffentlichen Berufsfachschule wird auf die Ausbildung angerechnet; sie verkürzt sich dadurch um ein Jahr. Allerdings muß ich zugeben, daß dies in der Praxis nicht so gern gesehen wird. Die Schule vermittelt eben nur Theorie.“
Zensuren sind ausschlaggebend
Ingrid, die sich im Gegensatz zu zahlreichen Mitbewerbern, rechtzeitig bei der Berufsfachschule angemeldet hatte, mußte allerdings eine vorläufige Absage in Kauf nehmen. Bei der Vielzahl von Aufnahmegesuchen findet natürlich eine Auslese statt. Prüfungen gibt es nicht, also entscheidet das Zeugnis. Ingrid ärgert sich jetzt über ihre „Vieren“. Im Schulbüro hieß es: „Es tut uns leid, aber die Zensuren sind nun einmal ausschlaggebend. Wir tragen Sie in eine ‚Nachrückliste‘ ein. Falls jemand ausfällt, rücken Sie einen Platz vor. So ungünstig sieht es für Sie gar nicht aus.“ Trotzdem hat Ingrid vorgesorgt: Falls es nicht klappt, kann sie im Herbst auch eine Ausbildung im Büro beginnen. Im Anschluß daran würde sie in jedem Fall die Vorklasse zehn der Fachoberschule besuchen, um die Fachoberschulreife zu erwerben. Auf schulische Weiterbildung will sie nicht verzichten, auch wenn sie dafür einige Umwege in Kauf nehmen muß.
„Es muß etwas mit Mode zu tun haben“
Für Marion sieht es etwas anders aus. Sie will auf jeden Fall im Modebereich arbeiten, allerdings hat sie sich noch nicht entschieden, welche Richtung sie endgültig einschlagen will. Zunächst hat sie sich an einer Berufsfachschule beworben, in diesem Fall an einer gewerblichen Schule mit der Fachrichtung Textil und Bekleidung. Diese Schule dauert ebenfalls zwei Jahre. Neben allgemeinbildenden Fächern stehen unter anderem Hygiene, Technologie, Werkstofflehre und berufsbezogene Praxis auf dem Lehrplan. Marion erhält mit bestandener Prüfung die Fachoberschulreife und kann dann ein verkürztes Ausbildungsverhältnis eingehen, zum Beispiel als technische Zeichnerin, Dekorateurin, etc.
Marion ist zuversichtlich: „Ich finde es gut, daß ich während der Schulzeit schon vieles über meinen zukünftigen Beruf erfahre. Ich glaube, daß es mir Spaß machen wird, weil ich hier schon mit Mode zu tun haben werde.“
Fachoberschulreife gilt für alle Berufe
Leider kennen nicht alle ihre Interessen so gut wie Ingrid und Marion. Was passiert, wenn man nach zwei Jahren Berufsfachschule erkennt, daß man wohl doch nicht die richtige Wahl getroffen hat? Dr. Schulz-Olden: „Die Fachoberschulreife gilt für alle Berufszweige. Das heißt, wenn Ingrid nach der kaufmännischen Berufsfachschule einen technischen Beruf ergreifen will, kann sie es durchaus tun. Umgekehrt gilt das natürlich auch für Marion, wenn sie plötzlich auf das Kaufmännische umsatteln will. Zweckmäßiger ist natürlich in jedem Fall, wenn man die berufstypischen Vorkenntnisse mitbekommt. Bei den Bewerbungen wird schon Wert darauf gelegt.“
Weitere Möglichkeiten
Für die Fachoberschulreife genügt im Prinzip auch das zehnte Hauptschuljahr. Ingrid und Marion könnten theoretisch noch ein weiteres Jahr an ihrer Hauptschule bleiben. „Das wäre natürlich nicht schlecht“, überlegten die beiden. „Wir kennen die Lehrer, und einige unserer Mitschüler würden bestimmt auch dableiben.“ Der Ausbildungsberater teilt diese Begeisterung allerdings nicht so ganz: „Für diese neugeschaffene Einrichtung fehlen leider noch qualifizierte Lehrkräfte. Außerdem steht im zehnten Hauptschuljahr keine berufsfördernde Bildung auf dem Plan. Bei einer Bewerbung kann es dann jederzeit passieren, daß jemand mit Berufsfachschulabschluß vorgezogen wird. Deshalb ist das Ganze noch mit Vorsicht zu genießen.“
Eine weitere Möglichkeit bietet das sogenannte Berufsbildungsjahr. Die Fachoberschulreife hat man aber erst mit einer Durchschnittsnote von 3,0 in der Hand. Der Ausbildungsberater: „Der erfolgreiche Abschluß wird hier nur dann auf die Berufsausbildung angerechnet, wenn das Berufsfeld dem gewählten Ausbildungsbereich entspricht!“ Möglichkeiten gibt es also genügend. Man muß sich nur rechtzeitig informieren und beraten lassen …