Bon Iver: Der Wald ist nicht genug
Als Justin Vernon sich in eine winterliche Holzhütte einschloss und ein schön trauriges Herzschmerzalbum aufnahm, wurde er zum bekanntesten Einsiedler des Pop. Plötzlich wollten alle mit dem Wunderknaben aus Wisconsin arbeiten. Nach Album Nummer zwei, einem Grammy und diversen Aufnahmen mit Kanye West war Vernon drauf und dran, seine Band Bon Iver für immer zu begraben – bis jetzt. Die Geschichte hinter dem Comeback des Jahres.
Im Sommer 2014 rollt ein weißer Opel Corsa, Baujahr 1988, an der portugiesischen Westküste entlang. Die beiden Männer, die in dem Auto sitzen, haben die Fenster heruntergekurbelt. Irgendwo bei Sintra, wenn man die Stadtautobahn aus Richtung Lissabon verlässt und die Natur plötzlich grüner wird, weht der Duft von Eukalyptusbäumen durch das Innere des Wagens. Der Motor brummt furchtbar laut.
„Warum sagst du nichts? Gefällt es dir hier nicht?“, fragt der Mann am Steuer seinen Beifahrer. Er bekommt keine Antwort. Eine halbe Stunde später, am Strand von Cabo da Roca, dem Punkt auf dem europäischen Festland, der Amerika am nächsten ist, sagt der Beifahrer auf einmal, es gehe ihm nicht gut. Nicht jetzt. Eher grundsätzlich.
Der Mann, der da die großen Fragezeichen in den portugiesischen Sand malte, ist Justin Vernon.
2007 veröffentlichte er unter dem Bandnamen Bon Iver das Album FOR EMMA, FOREVER AGO, das er im Winter 2006/07 über mehrere Monate in der einsamen Holzhütte seines Vaters aufnahm. Die Geschichte, kurz gefasst, geht so: Vernon, getrennt von seiner Band, geschwächt vom Pfeifferschen Drüsenfieber, vor allem aber gezeichnet vom Beziehungsende zu seiner Freundin, will sich verkriechen. Allein sein. Nachdenken. Als er nach drei Monaten und neun aufgenommenen Songs die Tür zur Hütte ein letztes Mal hinter sich zumacht, ist er wenig später der bekannteste Einsiedler des Pop. Nach einem weiteren halben Jahr ist er ein Superstar.
Justin Vernons Weg vom Einsiedler zum Superstar zum Comeback
Im Sommer 2016 rollen gelbe Schulbusse einen kleinen Hügel im nordwestlichen Wisconsin hinauf. Das Lederimitat der Sitze riecht so ganz und gar nicht nach Eukalyptus. Die Vorgärten, an denen die Fahrzeuge vorbeiknattern, sind gepflegt, kaum eine US-Flagge weht. Wo die Busse langsamer werden, sitzen zwei Damen mit Hüten seelenruhig wie ein paar Bridge-spielende Sizilianer vor ihren Hauseingängen und warten auf Kundschaft: „Parking $10“ haben sie auf ein Pappschild gedruckt. Hinter der letzten Linkskurve oben auf dem Hügel erscheint ein noch viel größeres Schild: „EAUX CLAIRES“. Es ist der Wegweiser zum Festival, das Justin Vernon zusammen mit Aaron Dessner (The National) 2015 ins Leben gerufen hat. Weniger durchkommerzialisiert soll es sein, klein, familiär, mit ein paar frischen Namen im Line-up wie James Blake und Beach House, mit ein paar alten Namen wie Bonnie „Prince“ Billy, Erykah Badu, und ein paar jungen Talenten aus Wisconsin und Umgebung. An diesem Wochenende im August findet es zum zweiten Mal in Vernons Geburtsstadt Eau Claire statt – und hat dieses Mal eine echte Weltpremiere zu bieten. Nämlich das dritte, langersehnte Bon-Iver-Album 22, A MILLION: live, auf der Hauptbühne, noch bevor es irgendjemand kaufen kann, sechs Wochen vor Veröffentlichung, zu hören nur hier in diesem kleinen Nest in Wisconsin.
Justin Vernon war nicht sicher, ob die Musik rechtzeitig für das Festival fertig sein würde. „Wir wollten nicht einfach das gleiche Set wie im letzten Jahr spielen“, sagte er vor ein paar Monaten in einem Interview mit dem „Billboard“-Magazin. „Ich arbeite an neuer Musik, das braucht seine Zeit. Ich habe mir selbst Druck gemacht, zum Festival mit neuem Material dazustehen. Aber am Ende kann ich es nicht forcieren. Das muss Schritt für Schritt gehen, da gehört Geduld dazu. Und wenn neue Musik erscheint, muss sie aufrichtig sein, sie muss mit den anderen Alben harmonieren und trotzdem darüber hinausgehen.“ Aus diesen Sätzen klingt Ambition, wenn nicht sogar Perfektion heraus. Was die jahrelange Abstinenz erklären dürfte. Zumindest das Festival sollte in jedem Fall für sich stehen, als Gegenstück zu all den Dingen, die Vernon an Festivals hasst: „Nonstop laute Musik, keine Pausen, schlechtes Essen, und all dieser Mist. Warum muss man bei seinem Rock-Festival die Sony-PlayStation-Bühne errichten? Warum muss man das Geld dafür einstreichen?“
All das gibt es beim „Eaux Claires“ tatsächlich nicht. Das Festival ist klein, übersichtlich. Viele Fans kommen aus der Umgebung, aus Minneapolis, Milwaukee, Chicago, ein paar Brooklyn-Hipster dürfen logischerweise auch nicht fehlen. Der Altersdurchschnitt ist gemischt, viele Jugendliche, Eltern mit jungen Kindern, ein paar Silberfüchse dazwischen. Es ist ein sehr weißes Festival, ähnlich wie die Bevölkerung von Wisconsin. Etwa 20 der Schulbusse, mit denen die Gäste von der Stadt auf das Gelände gebracht werden, parken auf einer Wiese, die nach hinten abfällt und den Blick freigibt auf ein kleines Tal, an dessen Fuß ein See liegt. Bei den heißen Temperaturen ist er umgekippt, überzogen von einer mintfarbenen Algendecke. Weiter nördlich am Festivalgelände schlängelt sich der Chippewa River vorbei, in den ein paar Stunden später die Abendsonne fällt.
Das Erste, was man um 21.30 Uhr auf der Hauptbühne hört, ist ein Fiepen, stockend, gefolgt von einem Echo, das immer wieder aussetzt, dann eine Kinderstimme, die sagt, „it might be over soon“, Sekunden später gefolgt von Justin Vernons Stimme, die durch einen Filter gejagt „we are gonna look for confirmation“ ausspuckt. Behutsam gesellt sich das Schlagzeug hinzu, eine Gitarrensaite klingt an, nochmal und nochmal, das Fiepen gibt den Takt vor, dann ein kurzes Saxofonsolo, Vernon singt die nächste Strophe, dann wieder die Kinderstimme: „It might be over soon“, und genau das ist es, als die Stimme abfällt. Over. „22 (OVER S∞∞N)“ heißt der Song und ist an dem Abend in Eau Claire wie auf Platte der Auftakt zu Bon Ivers drittem Album 22, A MILLION, das dieser Tage nach fünfjähriger Abstinenz erscheint.
Im nächsten Moment marschiert das Schlagzeug los. Ra-pap-pap, ra-pap-pap, ein programmierter Beat setzt ein. Für Applaus bleibt kaum Zeit, alles geht nahtlos ineinander über. Vielleicht ist es auch ein bisschen zu verblüffend, was dort vorne auf der Bühne stattfindet. Justin Vernon trägt ein T-Shirt, Halstuch, Basecap, er sitzt am Synthesizer, beinahe jedes seiner Worte ist künstlich verzerrt. Er redet nicht viel mit dem Publikum, und selbst das „Thank you“ nach dem zweiten Song hat eine Auto-Tune-Note. Von dem Einsiedler, der praktisch nur seine Gitarre und seine Stimme hat, um irgendeine Form von Emotion auszuspielen, ist dieser Justin Vernon dort oben auf der „Eaux Claires“-Bühne vor 20.000 Menschen ziemlich weit entfernt.
Damals, 2006, zieht er sich also zurück in die väterliche Hütte. Er hackt Holz, sein Essen jagt er mit der Büchse, die überm Bett hängt, und nebenbei setzt er seinen eigenen emotionalen Scherbenhaufen zu neun spärlichen Akustiksongs zusammen. Er veröffentlicht das Album wie er es aufgenommen hatte: in Eigenregie. Er lässt 500 Exemplare pressen. Es dauert nicht lange, bis die Lieder im Sommer 2007 von den amerikanischen Bescheidwisserblogs herumgereicht werden. Im Herbst unterschreibt Vernon beim Independent-Label Jagjaguwar. Im Februar 2008 wird Bon Ivers FOR EMMA, FOREVER AGO für den weltweiten Vertrieb neu aufgelegt. Das zweite Album BON IVER, BON IVER, veröffentlicht im Juni 2011, gewinnt im darauffolgenden Jahr den Grammy als „Best Alternative Music Album“, während das Stück „Holocene“ daraus als „Record of the Year“ und „Song of the Year“ nominiert wird. Zu diesem Zeitpunkt hat Vernon bereits Musik und Gesang auf mehreren Tracks von Kanye Wests Großtat MY BEAUTIFUL DARK TWISTED FANTASY beigesteuert.
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