Chuck Berry – Der grinsende große alte Mann
Als der ältere Herr in grellbuntem Hemd und scharfgebügelten schwarzen Hosen grinsend auf die Bühne schlenderte und seine kirschrote Gibson in die Verstärker einklinkte, brach in der ehrwürdigen Hamburger Musikhalle ein Orkan los, wie man ihn nicht allzuoft erlebt. Über dem Gebrüll der Massen gelang es mir kaum, das klirrende Intro des ersten Songs zu erkennen: "Roll Over Beethoven", dereinst von den Beatles wiederbelebt, an diesem Abend vom Meister selbst geboten. Chuck Berry, seines Zeichens Grand Old Man des RockV Roll, gab sich die Ehre.
Eddie and the Hot Rods, Rock ’n‘ Roller der dritten (oder vierten?) Generation aus England, hatten das Konzert in durchaus angemessener Weise eröffnet. Fand ich wenigstens (und natürlich auch der notorische Punk-Freak hh, der mit leuchtenden Augen neben mir saß). Die vor wütender Energie nahezu berstenden Songs der Hot Rods stellen immerhin nichts weniger dar als die Transformation des archaischen 50er Rock ’n‘ Roll in die „Neuzeit“: kurze, beinhart rockende Nummern, in deren Texten sich Frustrationen und Sehnsüchte der (englischen) Jugendlichen von heute artikulieren.
Davon allerdings wollte das Hamburger Publikum nichts wissen; man war schließlich gekommen, um Chuck Berry zu hören und sonst gar nichts. Und wohin kommt man schon mit Toleranz? Unter Pfiffen und Gebuhe verabschiedete sich Barrie Masters mit den Worten: „Vielleicht seid ihr alle zu alt.“ (hh standen die Tränen in den Augen). Vielleicht hatte Masters recht, vielleicht fehlt den Songs der Hot Rods aber auch etwas, äh, melodische Finesse.
Nach der Pause dann zwanzig Jahre zurück, hoch lebe die Nostalgie! “ The Flying Saucers“, fünf Engländer mit pomadigen Entenschwanzfrisuren und mächtigen Bartkoteletten, in Clubjacken und Röhrenhosen, legten einige stilechte Rockabilly-Nummern hin, bevor sie ihre Aktivitäten auf die mühsame Aufgabe beschränkten, den legendären Chuck Berry zu begleiten. Und er machte es ihnen bestimmt nicht leicht.
In der (sicher berechtigten) Annahme, daß jeder Rock-Musiker, der etwas auf sich hält, aus dem Stand so ziemlich alle Chuck-Berry-Songs spielen kann, gehört es zu Berrys Prinzipien, niemals mit eigener Band auf Tourneen zu gehen. Er heuert einfach irgendwelche Musiker an, die dann ohne Proben mehr schlecht als recht mit ihm durch sein Repertoire stolpern. Und so wurden an diesem Abend die Flying Saucers als Band massakriert.
Schon „Roll Over Beethoven“ war musikalisch eine Zumutung, kraft- und zusammenhanglos heruntergekloppt. Chuck Berry spielte die Songs wie und wann es ihm in den Sinn kam, mit plötzlichen Tempo-, Takt- und Tonartwechseln, denen seine Begleitmannen nicht folgen konnten, so daß man nach kürzester Zeit außer dem Bassisten von den immer vorsichtiger werdenden Fliegenden Untertassen nichts mehr hörte.
Das tat der Sache an sich keinen Abbruch, denn Chucks Rhythmusspiel reichte eigentlich aus, die ganze Chose voranzutreiben. Wenn er nur durchgehalten hätte. Doch bloße Rhythmusakkorde zu dreschen, war ihm offenbar zu langweilig, denn nach einer kurzen Vorgabe von einigen Takten verlegte er sich auf haarsträubende, jeglicher Inspiration ermangelnder Solisterei, die von dem bedauernswerten Bassisten nur kläglich zusammengehalten wurde, hh und ich schüttelten im Einklang die weisen Häupter, das Auditorium war begeistert.
Die unsagbar schlampige Musiziererei hielt eine ganze Weile an, und der gute Chuck wußte selbst genau, daß seine Show alles andere als professionell war, als er nach einer halben Stunde verkündete, daß man jetzt soweit beieinander sei, um mit der Show beginnen zu können. „Maybelline“ und „No Money Down“ wurden dann auch ohne Sperenzien gebracht, während einer lahmen und entsetzlich langen Bluesimprovisation jedoch brach alles wieder auseinander.“Little Queenie“ brachte das Publikum erneut auf Touren,und so ging es hin und her und auf und ab.Allein Chuck Berrys unbestreitbarer schlitzohriger Charme und die selbstgängerische Qualität seiner klassischen Songs bewahrten die chaotische Vorstellung vor der totalen Katastrophe.
An die zwanzig Leutchen tummelten sich während der Schlußnummer „Reelin‘ And Rockin‘ “ tanzend auf der Bühne, trockneten ihrem Helden die schweißnasse Stirn und küßten ihn – rührende Szenen einer Verehrung, die dieser für seinen Beitrag zur Entwicklung der Rockmusik sicher verdient, nicht aber für diesen Abend.
Zur Belohnung spielte Chuck den letzten Song endlos lange, mit immer neuen instrumentalen Variationen über dem zwölf-taktigen Drei-Akkorde-Schema, und seine Tänzer wurden nicht müde. Als sie nach einer Dreiviertelstunde noch immer kein Ende gefunden hatten, verließen wir den Saal ohne ein Wort. Ich glaube, sie tanzen immer noch.