Cool, Britannia!
Was mit blassen Gitarrenpoppern begann, war drei, vier Jahre später in der Downing Street angelangt. Der Versuch einer Erklärung der vielleicht letzten großen Ära britischer Popmusik.
In Deutschland kam der Trend mit einer gewissen Verzögerung an. Beim Musikexpress auch, so selbstkritisch sollte man sein. Im April 1992 wurde in einer großen Geschichte über das „Herz des Rock’n’Roll“ räsoniert, das „im Norden Amerikas“ schlug, bei Pearl Jam, Soundgarden und Alice In Chains. Selbst ein Jahr später hatten wir ein passgenaues Zitat. John Peel gab zu Protokoll: „Die englische Musik besteht zur Zeit zu einem unheimlich großen Anteil aus Mist.“
Ein Zitat, das vermutlich eher ungenau war. Denn dass zu jener Zeit eine Menge passierte, zeigt sich auch an den Bands, die der berühmte Radiomoderator seinerzeit zu seinen „Peel Sessions“ lud. Da finden sich 1992 und 1993 immerhin Namen wie Pulp, The Verve oder Elastica. Peel konnte aus den Vollen schöpfen. Das Königreich stand Kopf, vor allem aufgrund von zwei Bands. Da waren einmal Blur. Die Band aus London hatte noch ein, zwei Jahre zuvor mit Songs wie „There’s No Other Way“ oder „Sing“ eher an die natürlich guten, aber gleichzeitig unfassbar unglamourösen Bands der sogenannten „Shoegazing“-Szene erinnert und veröffentlichte mit „Popscene“ plötzlich einen Song, der mit seinem Amalgam aus Sixties-Pop, Punk und scharfen Bläsersätzen urgewaltig rockte. Und dann kamen Suede. „The Drowners“ hieß die Debüt-Single der Gruppe um den jungen Architekturstudenten und bekennenden Bowie-Fan Brett Anderson. Morrissey fand lobende Worte für den blassen Schlacks, und der längst verblichene „Melody Maker“, neben dem „New Musical Express“ (NME) das zweite Zentralorgan der britischen Popwelt, titelte: „The best new band in Britain“. Gemein hatten beide Gruppen einen sehr britischen, sehr manierierten Gestus, der sich auch auf die Optik niederschlug und bei Blur vor allem im Video zu „Popscene“ sichtbar wurde: Wie Damon Albarn da dicklippig um sein Mikrofon herumspackt, wie er die Worte zerrt und biegt – dass dieser Song für Oasis eine nicht zu unterschätzende Inspiration war, ist kaum zu bestreiten.
„Popscene“ erschien am 30. März 1992, „The Drowners“ kurz darauf. Und auch wenn die Charts-Positionen bescheiden gewesen sein mögen – „Popscene“ erreichte eine für Blur enttäuschende Nummer 32, „The Drowners“ nur die 49 -, für Britpop war das die Initialzündung. Aus dem, was einige Jahr vorher vom „Melody Maker“ noch „The scene that celebrates itself“ genannt wurde, einer Gruppe eher unwichtiger Gitarrenpopper mit Sinn für Kameraderie und hübschen Pop, entpuppte sich eine Bewegung, die größer war als ihre einzelnen Bestandteile. Aus der Ursuppe des britischen Independent der 90er-Jahre gelang einigen Bands so eine Art Neustart, etwa den Boo Radleys, die den Whimp-Pop ihrer ersten Platten 1993 auf dem hervorragenden Giant Steps mit Psychedelik aufhübschten, aber eben auch ganz simple Popsongs wie „Wishing I Was Skinny“ schrieben. Oder James, die ihr 1989 aufgenommenes „Sit Down“ in leicht abgewandelter Form noch mal veröffentlichten und damit plötzlich in den Charts landeten.
In den Mainstream trugen Britpop allerdings zwei andere Bands: Mit Blurs Parklife und Definitely Maybe von Oasis hatte das Genre 1994 plötzlich zwei Proto-Platten, auf die sich alle einigen konnten. Einmal aus London und mit kaum chiffriertem Artschool-Hintergrund. Und einmal hübsch krawallig. Oasis aus Manchester, das kann man schon sagen, gaben dem Britpop seine Faust, erweiterten die Zielgruppe Richtung Bierkneipe und Fußballfeld. Kein Debütalbum verkaufte in der ersten Woche mehr Exemplare als Definitely Maybe. Ein Erfolg für Alan McGee und sein notorisch klammes Creation-Label. 1995 erschien schließlich das dritte der wirklich wichtigen Alben für das Genre: Nach dem Top-Ten-Hit His ‚N‘ Hers gelang Pulp aus Sheffield mit Different Class eine Platte, die die 20, 30 vergangenen Jahre britischer Kultur abbildete wie kaum eine andere.
Und darum ging es schließlich. Es war nicht nur die musikalische DNA der meisten Britop-Bands, die in ihrer Heimat zu finden war, bei den Beatles, den Kinks, den Sex Pistols, David Bowie oder den La’s: Die Distinktion fand immer auch in der Darstellung und in den Inhalten statt. Das sah man auch. Vergleicht man ein Bandfoto von Suede oder Pulp mit, sagen wir mal, Alice In Chains oder den Spin Doctors, also US-Bands, die zur gleichen Zeit aktiv waren, muss man nicht darüber sprechen, wer sich da mehr Gedanken um seine Outfits machte. Das konnte man aber auch nachlesen, denn die Texte von Bands wie Blur, Pulp oder Divine Comedy haben eines gemeinsam: Oft beziehen sie sich auf England, übersetzen den Kitchen Sink Realism der 60er-Jahre und den Gestus von Beat-Bands wie den Kinks in die Gegenwart. Und so ganz nebenbei spielen sie mit der Ikonografie der eigenen Pop-Vergangenheit. In gewisser Weise spiegelte die Rivalität zwischen Blur und Oasis, die ihren Gipfel in der Veröffentlichung zweier Singles am selben Tag fand und von einem medialen Dauerfeuer begleitet wurde, den alten Mods-vs- Rockers-Konflikt der 60er-Jahre wider. Aus dem alten Kampflied „Rule, Britannia“ wurde „Cool Britannia“. Der Union Jack und das Target-Zeichen der britischen Air Force illustrierten Plattencover, Zeitschriftentitel, Flyer.
Mit Independent hatte das alles nichts mehr zu tun, auch die Spice Girls, Pop-Senkrechtstarter des Jahres 1996, trugen die Flagge – als Minikleid. Es war auch nicht immer besonders hübsch, weil oft genug der Retro-Style der Swinging Sixties ohne jede Hemmung mit eigenwilliger Neunziger-Ästhetik gemischt wurde. Und natürlich wurde daraus rasch eine Blaupause für die Musikindustrie: Bald schmückten marktschreierische „Buy British“-Sticker die Cover der einschlägigen Alben. Die Zahl der britischen Bands, die zwischen 1995 und 1997 wohldotierte Plattenverträge bekamen, muss hoch gewesen sein. Viele davon waren gut – etwa Cast aus Liverpool mit ihrem wohl austarierten Mersey Beat oder Ocean Colour Scene, Schützlinge des mit seinen beiden ersten, Anfang der 90er-Jahre veröffentlichten Soloalben am Britpop sicher nicht ganz unschuldigen Paul Weller. Anderen dagegen hört man mit etwas zeitlichem Abstand eine gewisse Redundanz an. Da waren etwa Menswear aus London, die ohne jede Veröffentlichung das Cover des „Melody Maker“ zierten – um nur einige Monate später bevorzugtes Hassobjekt der Musikpresse zu sein. Oder Ultrasound, ebenfalls anfangs heiß gehandelt und rasch fallen gelassen. Oder ein komplettes Unter-Genre, das auf den Namen „New Wave Of New Wave“ hörte, irgendwas mit Zorn und Schminke zu tun hatte und dessen Protagonisten S*M*A*S*H, These Animal Men oder Compulsion hießen.
Es passte gut, dass auch politisch einiges in Bewegung war. Die ewige Ära der Tories näherte sich ihrem Ende. Der Eisernen Maggie Thatcher folgte John Major, ein blasser Verwalter, der spätestens nach seiner Niederlage bei einer Abstimmung über die Ratifizierung der Maastrichter Verträge angezählt war. Vor allem war da sein Gegenspieler Tony Blair. Ein Anfangsvierziger, der mit seinem „New Labour“ eine neue Spielart der Politik erschuf. Eine, die tatsächlich neu war, den Begriff des Establishments weiter fasste und die auf Kunst, Kultur und Lifestyle zuging. Da passierte schließlich einiges, auch jenseits der Musik. Der Brite Damien Hirst wurde zum neuen Darling der Kunstszene. Man trug die Fußball-Europameisterschaft aus. Die Verfilmung des Irvine-Welsh-Buchs „Trainspotting“ wurde weltweit zum Kassenschlager.
Blair passte in die Zeit. Vielleicht wurde deshalb die Hand, die er reichte, freudvoll angenommen. Zum Beispiel von den Pet Shop Boys. Neil Tennant erzählt gerne, er sei heute noch dankbar, dass diese Unterstützung nie wirklich publik wurde. Denn diskutiert wurde vor allem ein nicht wirklich dokumentiertes Treffen mit Damon Albarn, das angeblich damit endete, dass dieser mit einer geklauten Flasche Gin das House of Parliament verließ und jene Fotos, die Blair zusammen mit Noel Gallagher bei einem Glas Champagner in der Downing Street abbildeten.
Der dürfte übrigens mit dafür verantwortlich sein, dass das Genre bald am Haltbarkeitsdatum kratzte. 1997 stellten Oasis mit Be Here Now ein Album in die Läden, das eine einzige Zumutung war. Überlang, überlaut und ohne jede Spur von Demut, ein auf Kunststoff gepresster Kokainrausch, dessen mangelhafte Nachhaltigkeit sich vor allem an einer wenig schmeichelhaften Hitparaden-Positionierung zeigte: Keine Platte wurde in den ausgehenden 90er-Jahren öfter in den britischen Secondhand-Läden abgeladen als diese. Bei Amazon gibt es das Album für preisgünstige 0,01 Euro. Blur gingen einen anderen Weg, schielten auf ihrem selbst betitelten Album Richtung Amerika. Und für die zahllosen zweiten und dritten Alben jener Bands, die vorher von der Industrie als next big things postuliert wurden, interessierte sich plötzlich niemand mehr. Erwähnte Menswear etwa veröffentlichten ihr zweites Werk Hay Tiempo nur noch in Japan. Unfassbar, bedenkt man, dass ihnen die Musikindustrie zwei Jahre zuvor noch 500 000 Pfund in den Schlund geschoben hatte.
Und heute? Heute watscht Gallagher in Interviews Blair beherzt ab. David Roundtree von Blur kandidierte bei den vergangenen Unterhaus-Wahlen für die Labour-Partei, distanzierte sich aber von Cool Britannia und New Labour. Jarvis Cocker hat sich längst nach Frankreich zurückgezogen, sein Bandkollege Damon Albarn macht mit Gorillaz, The Good, The Bad And The Queen und Rocket Juice & The Moon (siehe Seite 87) Musik, die sich allzu voreiligen Einordnungen entzieht. Auf der anderen Seite hat der Trend zum Comeback auch vor der britischen Popmusik nicht haltgemacht. Blur spielten schon 2009 im Hyde Park und geben im Sommer das Abschlusskonzert zu den Olympischen Spielen. 2012 kommt es zur großen Stone-Roses-Reunion, Suede arbeiten an einem neuen Album, Pulp spielen im Sommer die Festivals. Aktuell touren die Manchester-Veteranen Happy Mondays und Inspiral Carpets. Auch Bands aus der zweiten Liga wie Dodgy, die Smiths-Wiederkommer Marion oder My Love Story sind unterwegs.
Und: Junge Bands versuchen es immer wieder. Das Problem: Der Aha-Moment ist dieser Tage selten bis nie vorhanden, eher werden Süppchen aufgekocht, die schon damals nicht schmeckten. Alljährlich haut uns der NME zwei, drei Bands um die Ohren, die den Gesetzen des alten Markts gehorchen. Blasse, aber großmäulige Jungs mit Harrington-Jacken, schlechter Haut und Gitarre, deren Bands prägnante, aber egale Namen wie The Enemy, Brother oder Fella tragen und die Songs spielen, die so klingen, als wären sie von der Resterampe der Be Here Now-Sessions gefallen. Die Logik scheint zu sein: Wenn Erfolg sich dieser Tage dadurch erklärt, dass jedem Hype nach etwa 20 Jahren ein Revival folgt, könnte doch nun endlich Britpop dran sein. Aber Musik definiert sich 2012 eben doch anders, lässt sich nicht mehr an Genres oder Nationalitäten festmachen.
Wo früher ein signifikanter Unterschied zwischen London, Los Angeles und Berlin geherrscht haben mag, verlaufen die Grenzen heute woanders. Das Hipstertum, das die Trends setzt, hat sich internationalisiert, besitzt nicht nur das gleiche Macbook, sondern nimmt die gleichen Drogen, trägt die gleichen Hosen, hört die gleiche Musik, ob in Silverlake, an der Brick Lane oder in Mitte. Ein Produzent wie Mark Ronson arbeitet mit den Kaiser Chiefs, aber auch mit dem Rapper Wale. Pop-Newcomer Lana Del Rey mag amerikanisch klingen, lebt und arbeitet aber zu großen Teilen in London. Trends verlaufen weltweit, die Deutungshoheit über Musik liegt bei multinational vernetzten Blogs. Und Britpop? Ist Stichwortgeber bis nach Chemnitz. Dessen Pop-Export Kraftklub nannte eines seiner Lieder tatsächlich „Songs für Liam“ – und erreichte damit aus dem Stand Nummer eins der Hitparaden. Jochen Overbeck