Die 15-Cent-Geier: Nur ein Unmensch würde eine CD eines Reinhardt weggeben
Hier die 28. Folge von Jan Müllers „Reflektor“-Kolumne, in der er erklärt, warum er vermutlich auch zukünftig nicht auf seine CDs verzichten wird.
Aus gerechtfertigten Gründen musste ich mit meinem Arbeitszimmer umziehen. Anlass für eine Generalinventur. Denn in dem, was ich als Büro bezeichne, sammelte sich in grausamen Mengen wichtiges Kulturgut an: Bücher, Platten CDs, Fanzines, Comics, Plüschtiere … das Übliche. „Besitz belastet.“ Das ist sonnenklar. Das Zitat stammt vermutlich aus dem Buddhismus. Das ist zwar eine Religion, die mir als besonders verdächtig erscheint, trotzdem bin ich der gleichen Meinung. Ich spüre das ja selbst. Doch wer will schon leben wie Marie Kondo?
Trotzdem: In meinem Büro muss einiges weg. Dem Ausmisten ging ein psychisch belastender, wochenlanger Grübelprozess voran. Warum sammle ich? Warum fällt es mir schwer, mich vom Gesammelten zu trennen? Ich kam zu dem Urteil, dass es die Aufgabe hochqualifizierter Psychoanalytiker wäre, das zu ergründen. Doch die Zeit eilte, ich musste jetzt durch die Sache durch. Zunächst die Bücher: Oha! Erst mal weg mit allem, was überflüssig ist. Das fällt mir gar nicht so schwer. Manchmal ist es sogar eine Freude, etwas wegzuwerfen. Wie kommt denn dieses lästige Precht-Buch in unseren Haushalt? Fort damit! Dürrenmatt, Diederichsen und Djian: All das bedeutet mir nichts. Comics? Auch hier fand ich eine radikale und sehr gute Lösung.Grüße an dieser Stelle an Fiona von der Gruppe Frau Lehmann.
Ich rede mir ein, dass alles Nichtdigitale zukünftigen Zivilisationen zur Erkundung zurückgelassen werden sollte
Die Vinyl-Platten lasse ich unangetastet. Auch sie sind eigentlich vollkommen überflüssig. Aber irgendwie rede ich mir ein, dass alles Nichtdigitale (also auch Tapes!) zukünftigen Zivilisationen zur Erkundung zurückgelassen werden sollte. Außerdem sind sie einfach schön. Aber was mache ich mit den CDs? Um Platz zu sparen, hatte ich mich in einer seltsamen Inkonsequenz vor einigen Jahren von den doofen Plastik-Trays der CDs befreit und dann Cover, Inlay und CD säuberlich in Klarsichtfolien umgepackt. Ich war der Meinung, nicht auf die Booklets verzichten zu können. Es könnte ja jeden Tag passieren, dass mich ein Verlangen überkommt, die Liner Notes meiner Neurotic-Arseholes-CD (GIB NICHT AUF! – DIE KOMPLETTEN AUFNAHMEN 1979 BIS 1985) zu lesen. Außerdem habe ich keine Lust, dieses Kulturgut in den Rachen fragwürdiger Reseller zu schmeißen.
Viel Platz nehmen noch immer die CDs in den Digipacks ein. Diese Hüllen fand ich ohnehin seit Einführung fast noch unschöner als die Jewel-Cases. Ich erinnere mich noch an den Release unseres Tocotronic-Debütalbums. Ursprünglich sollte es lediglich als CD erscheinen. Zur Verwunderung unserer Plattenfirma bestanden wir darauf, kein Digipack, sondern ein Standard-Jewel-Case zu verwenden. „Am bestem mit grauem Tray, das sieht schön schäbig aus“, sagte Arne.
„Wer sagt denn, dass die Musik nicht wieder aus dem Netz verschwindet!“
Es ist schon verrückt, wie schnell CDs, DVDs und der ganze Klumpatsch sich überlebt hat. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, einfach alles wegzuschmeißen. Doch noch hadere ich: Es ist nun aber auch wirklich nicht so, dass alles bei den Streamingdiensten abrufbar ist. Während ich mitten im Umzug war, zeichnete ich eine Reflektor-Folge mit Hendrik Otremba von der Band Messer auf. Er riet mir erschreckt davon ab, CDs zu entsorgen. „Wer sagt denn, dass die Musik nicht wieder aus dem Netz verschwindet!“, sagte er mit unruhigem Blick.
Recht hat er. Immerhin stammt der führende Streamingdienst aus Schweden, einem Land, das außer den Brainbombs und MOB 47 keinerlei nennenswerte Popmusik erschaffen hat. Schon aus reiner Rache könnten sie irgendwann die Server runterfahren. Oder aber die Sachen stehen ohnehin gar nicht online. Zum Beispiel die CD-EP „Lämmöllä“ der finnischen Karkkiautomaatti, die mir in jenen Tagen wieder in die Hände fiel. Die Band nächtigte bei mir nach einem Konzert im Golden Pudel Club. Die sanften Finnen froren in meiner Wohnung, obwohl mir andere Leute schon vorwarfen, bei Saunatemperaturen zu leben. Natürlich drehte ich die Heizung für sie noch weiter auf. Nie im Leben würde ich mich dieser CD entledigen. Auch wenn ich sie nie höre.
Andere Alben sind allein deshalb erhaltenswert, weil sie heute kurios erscheinen
Ein anderes Beispiel ist Schnuckenack Reinhardt: Zwar habe ich das Album des Heidelberger Jazzmusikers auch auf Vinyl. Aber nur ein Unmensch würde eine CD eines Reinhardt weggeben! Andere Alben sind allein deshalb erhaltenswert, weil sie heute kurios erscheinen. Etwa MELLON COLIE & THE INFINITE SADNESS der Smashing Pumpkins. Es ist absurd, dass dieses kitschige Bombast-Doppelalbum als winzige Doppel-CD erschien. Heutzutage würde das mindestens als XXL-Goldbrokat-Boxset mit limitierter Armand-Marseille-Puppe auf dem Markt platziert werden.
Übrigens hörte ich das Album damals heimlich sehr gerne. ES IST MITTERNACHT, JOHN von Dieter Tomas Heck, bizarr! Royal Trucks, die coolste Band überhaupt! Die Cure-Deluxe-Ausgaben! Heresy: VOICE OF FEAR – 48 Songs auf zwei CDs! Ich werde euch vor den 15-Cent-Geiern von Rebuy und Momox bewahren.
Zu Jan Müllers „Reflektor“-Podcast: www.steadyhq.com/de/reflektor
Jan Müller von Tocotronic trifft für seinen „Reflektor“-Podcast interessante Musiker*innen. Im Musikexpress und auf Musikexpress.de berichtet er von diesen Begegnungen. Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 06/2023.