Bestenliste

Die 50 besten Alben des Jahres 2016


Ja, 2016 war nicht sehr nett zu uns. Trotzdem: Gute Alben sind auch dieses Jahr erschienen. Hier sind unsere 50 Favoriten.

Platz 10: Beyoncé – LEMONADE

Columbia/Sony (23.4.)
Kein anderes Album hat die Popwelt 2016 in so wilde Diskussionen gestürzt. Keines war so fulminant inszeniert. LEMONADE ist ein Großprojekt, ein ganzer Themenpark mit Extras, Zitaten, kulturellen Codes: Zu erleben gibt es stilsichere Songs zwischen R’n’B, Southern Gothic und Countrysoul plus hochkarätige Gäste (Kendrick Lamar, Jack White, James Blake) plus 60-minütigem Film plus Boulevardbrennstoff (hat Jay‑Z sie wirklich betrogen?). Hier geht es um das Frau- und Schwarzsein, das Politische im Privaten, Selbsterkundung und die amerikanische Psyche. Ein emanzipatorischer Kraftakt von ungeheurer Wucht und Sexiness. Annett Scheffel

Platz 9: Frank Ocean – BLONDE

Boys Don’t Cry (20.8.)
Wann hat das eigentlich angefangen, dass sich R’n’B-Megastars wie Beyoncé und Drake mit Produzenten wie James Blake und Jamie xx geschmückt haben, dass sie bisexuell oder schwul sein dürfen und dass damit nach dem Rock die zweite männlich-heterosexuell dominierte Popbastion aufgeweicht wird? BLONDE, Frank Oceans Album nach dem hochgelobten CHANNEL ORANGE von 2012, kündet von einer Zeitenwende. Es wird dominiert von abstrakten, reduktionistischen Arrangements – manchmal nur ein trockener Beat und dezent schwellende Keyboardflächen oder eine solitäre Gitarre. Features wie Beyoncé, Kendrick Lamar und James Blake fallen nicht weiter auf. Wer BLONDE vorwirft, keine „richtigen“ Songs zu enthalten, wer es mit Attributen wie „langweilig“ beschreibt, hat von den 10er-Jahren nichts verstanden. Die Signale, die Secondhand-R’n’B-Dekonstrukteure wie Jamie xx, James Blake oder Dean Blunt aussenden, werden von Firsthand-Protagonisten wie Frank Ocean empfangen und verstärkt weitergegeben. Albert Koch

Platz 8: Isolation Berlin – UND AUS DEN WOLKEN TROPFT DIE ZEIT

Staatsakt/Universal (19.2.)
Neulich waren Isolation Berlin in der Fernsehshow von Ina Müller zu Gast. Sie standen da also zwischen alten Seemännern und einem irritiert wirkenden Tim Wiese und spielten ihr „Fahr weg“, was ganz gut passte, da der Song recht maritim ist. Ina Müller sang nicht mit. Den Gästen schien die für die Sendung recht schroffe Darbietung gut zu gefallen. Isolation Berlin waren zwei, drei Jahre ein Name, den sich in erster Linie Berliner Hipster zuraunten. In der Tat finden sich auf ihrem Debüt Hauptstadtbezüge, vom Schlachtensee bis zur Metrotram; darauf reduzieren sollte man die Gruppe um Tobias Bamborschke aber keinesfalls. So konkret, so dringlich wie in diesen Liedern wurde in den letzten Jahren kaum über Schattengefühle gesungen, so schön waren die Melodien dazu selten. Isolation Berlin spielen Pop, der mal recht straff organisiert britische Musikgeschichte, von Echo & The Bunnymen bis zu den Libertines, antriggert, um im nächsten Moment die eigene Organisation lustvoll zu zerstören. Jochen Overbeck

Platz 7: Solange – A SEAT AT THE TABLE

Sony (30.9.)
Nicht einmal fällt der Name der Bewegung, um deren Geist Solange Knowles sich unentwegt dreht und windet: Black Lives Matter. Aber auch ohne Slogan kanalisiert sie die essenziellen Ideen und Stimmungen des schwarzen Amerika. A Seat At The Table ist ein cineastisches, opulent schwebendes Album. Wichtiger als wie es klingt, ist, was es sagt: über schwarzen Stolz und Zugehörigkeits-Codes („F.U.B.U.“), über Selbstermächtigung („Don’t Touch My Hair“), über gesellschaftliche Frustration („Cranes In The Sky“). In Interludes lässt sie Mama und Papa übers Schwarzsein philosophieren und singt mit Kelly Rowland a cappella („I Got So Much Magic, You Can Have It“). All das ergibt ein Album als unmissverständliche Geste. Ein Album, das man unbedingt in der Nachfolge von D’Angelos BLACK MESSIAH und Kendrick Lamars TO PIMP A BUTTERFLY sehen muss – und unbedingt als etwas Eigenständiges. So viel Wut wird hier in so elegante, warme und sirupartig fließende Musik verwandelt. Annett Scheffel

Platz 6: PJ Harvey – THE HOPE SIX DEMOLITION PROJECT

Island/Universal (22.4.)
Harvey, deren 2011 erschienenes Kriegsalbum LET ENGLAND SHAKE zu unserer Platte jenes Jahres gekürt wurde, hat diesmal ein Reisetagebuch geschrieben. THE HOPE SIX DEMOLITION PROJECT erzählt Geschichten, die sie im Kosovo, in Afghanistan und in Washington, D.C., erlebt hat. Von einsamen alten Frauen, deren Nachbarn im Krieg gestorben sind. Von hungernden Kindern in Asien, die in den Straßen um Geld betteln, und von satten Kindern in Amerika, die sich einen Jux daraus machen, Vögel mit vermeintlichem Futter zu locken, nur um sich einen Moment lang mächtig zu fühlen. Von sich selbst erzählt Harvey allerdings nicht. Das kann man ihrem Album als Schwäche auslegen: Sie wertet nicht, sie beobachtet nur und ist letzten Endes genauso rat- und machtlos wie ihre Hörer – mit dem Unterschied, dass sie diese Gefühle in Songs gießen kann. Ihre Haus-und-Hof-Band um John Parish und Mick Harvey schrammelt und rumpelt sich so wunderbar durch das Album, dass auch die anschließende Tour zum Triumphzug wurde. Ivo Ligeti

Platz 5: James Blake – THE COLOUR IN ANYTHING

Polydor/Universal (6.5.)
Vor sechs Jahren erfand Blake sich mit „Limit To Your Love“ sein eigenes Genre. So meisterlich wie er beherrscht es immer noch niemand: diese kunstvolle Aufschichtung von Pianoakkorden, Synthesizerschlieren, Subbässen und schwermütigen Gospelgesängen. THE COLOUR IN ANYTHING ragt aus der mit Elektrosoul-Platten gefluteten Poplandschaft empor wie eh und je. Man könnte sagen: Ein Musiker, der mit einem Song auf dem Beyoncé-Album vertreten ist („Forward“), ist wohl irgendwo in diesem magischen Korridor angekommen, in dem die Popmusik ihren Weg in die Zukunft beschreitet. Damit gibt sich ein James Blake aber nicht zufrieden. Statt mit dem anderthalbminütigem LEMONADE-Snippet will er 2016 lieber mit eigenem Elektro-Opus (17 Songs, 76 Minuten) in Erinnerung bleiben. Wie er es schafft, Balladen-Intimität und experimental-elektronische Klangabstraktionen so dicht aneinanderzupressen und trotzdem so große, leere Hallräume herauszuschälen: Vielleicht verrät er uns den Zaubertrick irgendwann. Annett Scheffel

Platz 4: Radiohead – A MOON SHAPED POOL

XL/Beggars/Indigo (8.5.)
Es könnte sein, dass dieses Album den Punkt markiert, ab dem von Radiohead keine großen Innovationen mehr zu erwarten sind. Die Band hat sich mit A Moon Shaped Pool wohnlich in ihrem Sound eingerichtet (mit Yorkes Klagegesang als fester Größe), in dem artrockgerecht zwar ein riesiges Spektrum abgedeckt wird, aber bis auf die alarmistischen Collegno-Streicher der Leadsingle, „Burn The Witch“, keine neuen Welten erschlossen wurden. Für alle Stücke, seien sie auch so unterschiedlich wie das auf fließenden Klavier-Arpeggios Richtung Unendlichkeit fliegende „Daydreaming“, die traditionelle Krautrock-Jagd „Ful Stop“ oder der akustische Latin-Shuffle „Present Tense“, fände sich ein wie angestammter Platz auf einer anderen Radiohead-Platte. Was auch daran liegen könnte, dass hier vor allem ältere Entwürfe und halb fertige Songs verarbeitet wurden. Aber dass wir uns nicht falsch verstehen: Dieses ganz wunderbar arrangierte Album klingt wie ein Best-of mit elf neuen Songs und kein bisschen nach Verlegenheit. Und jetzt, da sie mit den alten Sachen durch sind, wer weiß, was da noch kommt … Oliver Götz

>>> weiter geht’s zu Platz 3 auf der nächsten Seite