Die 50 besten Alben des Jahres 2021: Plätze 10-1
Wir haben unsere Platten des Jahres gewählt. Hier, im Finale, die Plätze 10-1, mit Japanese Breakfast, International Music und, natürlich, Little Simz. Gönnt Euch!
1. Little Simz – SOMETIMES I MIGHT BE INTROVERT (Age 101/Rough Trade, VÖ: 03.09.)
Interludes gibt es in der Musik seit vielen hundert Jahren, als Zwischenspiele besaßen sie die Funktion, Zeit zu überbrücken, ohne dass unbehagliche Stille entsteht.In der Kirche erklangen Orgel-Interludien zwischen den Psalm-Gesängen, in der Oper gaben Interludes Chance zum Luftholen vor der nächsten Arie. HipHip-Artists führten das Interlude dann in den Pop ein, zunächst ging es in der Regel witzig zu, De La Soul zum Beispiel feuerten auf 3 FEET HIGH AND RISING ein Feuerwerk an Zwischenspielen ab, pendelten dabei zwischen Jingles und Skits, also kurzen Wortbeiträgen. Seit den 90er-Jahren sind die Interludes im HipHop beinahe ein Must-Have: Aus funktionalen Zwischenspielen entwickelten sich zentrale Stellen, an denen die Acts ihre Tracks thematisch miteinander verknüpfen, Manifeste verkünden oder Familien- oder Crew-Mitgliedern die Chance geben, sich mit kurzen Beiträgen zu verewigen. Was auch bedeutet, dass Interludes in der Regel dazu dienen, die Eitelkeit der Künstler*innen zu befriedigen. Künstlerischer Wert? So mittel.
Auf SOMETIMES I MIGHT BE INTROVERT ist das anders. „The Rapper That Came To Tea“ kippt der britischen Salon-Bürgerlichkeit Säure aufs Sofa, klingt dabei erst nach Shakespeare-Verfilmung, dann nach Westend-Entertainment, schließlich nach einem Off-Off-Broadway-Musical. Auch „Gems (Interlude)“ ist ein Meisterwerk für sich, eine Symphonie zwischen „Alice im Wunderland“ und Van Dyke Parks, mit einem Text, den Little Simz an sich selbst richtet, angelehnt an Warhols These von den „15 Minutes of Fame“: „Do you want 15 years or 15 minutes?“ SOMETIMES… ist die beste Antwort auf diese Frage: 15 Jahre – und weit mehr.
Über dieses Album werden wir reden, wenn wir uns 2036 fragen, wo denn Anfang der 20er-Jahre die Meisterwerke gewesen sind. Dass Little Simz ein solches gelingen würde, kommt nicht überraschend. Schon GREY AREA (2019) geriet brillant. Die selbstbestimmte Londonerin fand eine Form von Conscious-HipHop und Neo-Soul, die in diesen beiden vollbesetzten Genres neue Räume eroberte. Mit SOMETIMES I MIGHT BE INTROVERT sucht Little Simz nun keine Nischen mehr, sondern gründet einen eigenen Kosmos: SymphonyHop, mit Pauken und Trompeten,Chören und Orchester. Ihr Team um den irre guten Produzenten Dean Josiah Cover aka Inflo, Macher hinter dem Kollektiv SAULT, nutzte die Gunst der virenbelasteten Stunden, um Musiker*innen zu rekrutieren, die durch die Pandemie-Pause über etwas Platz im Kalender verfügten. Der orchestrale Reichtum ist weit mehr als eine beflissene Geste: symphonische Wucht, Vintage-Soul-Eleganz, Art-Pop-Momente, Hollywood-Grandezza – die Opulenz ist so wandelbar wie die Rapperin, Sängerin, Songwriterin, Poetin. Der Track „I Love You, I Hate You“ etwa wäre auch ohne Orchester super; durch das Arrangement entwickelt sich ein Song im Song, ein alternatives James-Bond-Thema (mit 007 als Schwarzer Frau, klar), das sich in Little Simz’ Abhandlung über die Hassliebe zu ihrem Vater integriert. Die Kernzeile: „Never thought my parent would give me my first heartbreak.“
Nimmt man die Anfangsbuchstaben des Titels, ergibt sich S.I.M.B.I., das ist der Rufname der Künstlerin, die im Pass den Namen Simbiatu Abisola Abiola Ajikawo stehen hat. Das Album ist also eine Selbstreflexion, doch dockt Little Simz mit ihren Gedanken und ihrer Musik an jeden an, der diese Platte hört. Dieses Album ist universell. Seltsam und großartig, dass es so etwas überhaupt noch gibt. Und wer das alles für übertrieben hält, kann ja mal das Interlude „The Garden“ checken: „Give your garden the love it needs.“ Kate Bush wird vor Neid noch blasser. (André Boße)