Die heilige Quelle von Liverpool
Der „Archetypen“-Psychologe CG. Jung (1875-1961) hatte 1927 einen Traum, der sein Leben veränderte: „Ich fand mich in einer Stadt, schmutzig, rußig. Es regnete, und es wärfinster, es war Winter und Nacht. Das war Liverpool.“ In der Traumstadt (die er selbst nie gesehen hat) fand Jung „einen weiten, von Straßenlaternen schwach erleuchteten Platz, in den viele Straßen einmündeten. Die Stadtquartiere waren radiär um den Platz angeordnet. In der Mitte befand sich ein runder Teich und darin eine kleine zentrale Insel. Während alles von Regen, Nebel, Rauch und spärlich erhellter Nacht bedeckt war, erstrahlte die kleine Insel im Sonnenlicht.“ Später schrieb er über seinen Traum: „Ich sehe jetzt noch die grau-gelben Regenmäntel, von der Feuchtigkeit des Regens glänzend. Alles war höchst unerfreulich, schwarz und undurchsichtig – so wie ich mich damals fühlte. Aber ich hatte das Gesicht der überirdischen Schönheit, und darum konnte ich überhaupt leben. Liverpool ist der ,pool of life'“.
Einen Traum hatte Mitte der 70er Jahre auch Peter O’Hallaghan, eine Art Liverpooler Version der US „Beatpoeten“. Er visionierte ebenfalls die „Quelle des Lebens“ – an der Kreuzung Mathew und Button Street. Was er am nächsten Morgen tatsächlich fand, war ein verschlossener Stollen (Nachforschungen ergaben, daß dort einst eine Quelle gewesen waT, die man in die städtische Kanalisation umgeleitet hatte) und ein leerstehendes Warenhaus (Mathew Street 18) aus viktorianischen Zeiten – das letzte seiner Art. Die übrigen waren wegen U-Bahn-Baus abgerissen worden, die Keller zugeschüttet (einer davon, Mathew Street 10, trug und trägt heute wieder den Namen „The Cavern“ –Beatles-Fans horchen auf!). O’Hallaghan mietete das Haus und gründete dort die „Liverpool School of Language, Music, Dream and Pun“: Ateliers, Werkstätten, Bühnen und ein Cafe, in dem sich ab 1975 alles traf, was in Liverpool mit Kunst, Literatur und Popmusik zu tun hatte, zu spontanen Performances, Konzerten, Lesungen. London war fern, der Merseybeat lange verklungen, die Vergangenheit und das tobende Leben der südlichen Hauptstadt warfen lange, dunkle Schatten auf die Bemühungen um eine eigenständige Szene; die meisten der Bands, die gegründet und diskutiert wurden, gab es nur als Idee, selten spielte eine ein paar Gigs und löste sich wieder auf: Der Weg war zu weit. Rockhistoriker Pete Frame, berühmt für seine handgezeichneten „Szene-Stammbäume“, nannte die Liverpool-Szene der späten 70er „das Komplizierteste, was mir je untergekommen ist“. Seine Darstellung des Jahres 1980 verzeichnet über 40 obskure bis halbreale Bandbesetzungen, deren Mitglieder indes später nicht selten tatsächlich als Musiker oder Produzenten berühmt wurden.
Im Keller des Hauses (das heute den Irish Pub „Flanagan’s Apple“ beherbergt), direkt an der Quelle, hatte Bill Drummond seine Werkstatt, wo er Theaterkulissen und Dekorationen für Ken Campbells zwölfstündige Adaption der „Illuminatus!“-Trilogie baute. Eines Nachts, als der Liverpooler Regen besonders ausdauernd fiel, stand sein Atelier unter Wasser, das aus der alten Quelle förmlich durch die Wände sprudelte. „Der ,Pool of Life‘ kam, um mich zu holen „, schrieb Drummond später. Wer tatsächlich kam, war sein Kumpel Julian Cope, der wie Drummond selbst mit Musik herummachte und hier und da Bands gründete. Bills Band gab es tatsächlich: Sie hieß Big In Japan; nebenbei – man schrieb inzwischen 1978, und der „Independent“-Gedanke trieb wunderliche Blüten hatte er mit Dave Balfe ein Label gegründet: The Zoo. „McCull“, erzählte Cope, „hat eine neue Band mitWill. Kennst du Will? Das ist der Kerl, der auf die Residents steht.“ Drummond wurde hellhörig. Zwar kannte er „McCull“ und konnte ihn nicht ausstehen – der Typ, der in Wirklichkeit Ian McCulloch hieß, war ein Fan von David Bowie (“ ,Starman‘ war der Grund, wieso ich überhaupt mit Musik angefangen habe“, sagte er später), den Drummond ebenfalls nicht ausstehen konnte. Aber wenn jemand sich der Mühe unterzieht, die Residents nicht nur zu hören, sondern richtig auf sie zu stehen, dann wollte das was heißen.
Neulinge waren die Mitglieder der Band nicht: Sänger McCulloch hatte zuvor mit Pete Wylie und Julian Cope (damals noch punkig „Ju Venile“ genannt) als The Crucial Three musiziert, dann mit Cope und anderen A Shallow Madness gegründet (Wylie machte als Wah! weiter) und mit Gitarrist Will Sergeant als Duo Demos unter dem Namen Echo! aufgenommen. Bassist Les Pattinson kam von The Love Pasteis einer deT Bands, die es gar nicht gab. Einflüsse und Vorbilder der drei (als „Schlagzeuger“ fungierte ein billiges Rhythmusgerät mit vier Einstellungen: Bossa Nova, Foxtrot, Rock Beat 1 und 2) waren für ihre Zeit untypisch: Die Doors zählten ebenso dazu wie Leonard Cohen und eine ganze Reihe von Underground-Bands der Westcoast-Sixties.
Julian Cope schlug Bill Drummond vor, sich die Band für sein Label (das gerade die erste Single „Sleeping Gas“ von Copes neuer Band The Teardrop Explodes veröffentlicht hatte) mal anzusehen. Drummond, dem der Name Echo & The Bunnymen gefiel („Klang merkwürdig, psychedelisch, verlockend) hörte bei dem Treffen keine Musik: Am Küchentisch der WG von McCulloch und Teardrop-Explodes-Drummer Gary Dwyer in der Penny Lane (Beatles-Fans horchen schon wieder auf) schlug er dem Sänger vor, für seine neue Band Badges zu produzieren. Das war 1978 wichtig: Wessen Badges die Leute an ihren Jacken spazierentrugen, den gab es nicht nur, der war auch irgendwie schon ein bißchen berühmt. McCulloch nahm das Angebot an.
Gegenüber dem ehemaligen „Cavern Club“ hatte dessen Inhaber 1973 einen neuen „Cavern Club“ eröffnet, dessen Schild noch dastand, obwohl der Laden inzwischen „Eric’s Club“ hieß. Dort spielte nicht nur auswärtige Prominenz von Blondie bis Clash, Devo bis Sex Pistols; hier sammelte sich vor allem die experimentelle Szene der Stadt: Bands wie Dalek I Love You und Big In Japan (Abschiedsgig am 24. August 1978) versuchten sich an möglichst extremen Mersey-Spielarten von Post-Punk. Als am 12. Oktober 1978 Andy McCluskey und Paul Humphreys als Orchestral Maneouvres In The Dark ihre Karriere starteten, saßen im Publikum die üblichen Stammgäste: Holly Johnson, Paul Rutherford, Pete Burns und selbstverständlich die frischgegründeten Bunnymen.
Kaum fünf Wochen später, am 15. November, standen sie selbst auf der „Eric’s“-Bühne, im Vorprogramm von The Teardrop Explodes und immer noch mit dem Klopfgerät als Taktgeber. Zu Gehör kam nur ein Song: „I Bagsy Yours“, eine primitive Frühversion von „Monkeys“, die eine gute Viertelstunde dauerte und selbst unter den einiges gewohnten Dauerbesuchern höchstens Verwirrung erzeugte. Immerhin: Bill Drummond (der bei dem Gig nicht anwesend war) erklärte sich nun bereit, eine Single zu machen.
Im Januar versammelte sich das Trio im August-Studio (im Rückgebäude des Arbeitsamtes in der Renshaw Street) und dröhnte zwei Songs auf acht Spuren: „Pictures On The Wall“ und „Read It In Books“. Das Cover zierte die Silhouette eines geisterhaften Hasen (entworfen von David Balfe), und obwohl Drummond fand, die Platte sei „Müll“, wählten sie NME, Melody Maker und Sounds zur „Single der Woche“. Erste Auftritte in London (mit Joy Division und Copes Band) folgten – und Interviews, in denen die Band Fragen nach ihrem Namen (den ursprünglich ein Szenetyp namens Smelly Elly erfunden haben soll) mit der Behauptung beantworteten, „Echo“ sei das Rhythmusgerät und „Bunnymen“ eine Anspielung auf die „Playboy-Bunnies“.
Da war ihr Labelchefund Manager ganz anderer Meinung: Drummond, mystischen Legenden nie abgeneigt, fand heraus, daß Echo nicht nur bei den alten Griechen eine Quellnymphe war, nach deren gewaltsamem Tod nur ihre Stimme blieb, sondern auch ein mythischer Held der Algonquin-Indianer, der nach der großen Flut aus einem Stück Schlamm die neue Erde erschaffen haben und manchmal in Gestalt eines Hasen auftreten soll. Die Bunnymen, schloß Drummond, seien niemand Geringerer als seine Gefolgschaft, die angetreten ist, die Welt zu retten.
Der plötzliche Erfolg rief Interessenten auf den Plan, mit denen (zumindest so schnell) niemand gerechnet hatte: Seymour Stein, Chef der US-Firma Sire Records, fühlte sich von „Pictures On My Wall“ an den Sixties-Crooner Del Shannon erinnert, fand, daß McCulloch wie ein Superstar aussehe, und sandte ein sensationelles Angebot – einen Vertrag über fünf Alben. Da hatte er die Rechnung ohne Drummond gemacht. Der teilte ihm handschriftlich mit, das Album als solches sei der Tod der Popmusik, deren Zerrüttung mit sgt. pepper begonnen und sich mit dem Progressive-Rock fortgesetzt habe. Ein Albumvertrag komme daher nicht in Frage, gerne sei die Band jedoch bereit, für Sire eine Single aufzunehmen, und im übrigen halte er Del Shannons „Runaway“ für „die größten zwei Minuten und27 Sekunden der Popmusik“. Stein blieb beharrlich: Die Bunnymen und ihr Manager, schrieb er zurück, müßten die Gepflogenheiten der Branche akzeptieren; Singles seien nur dazu da, Alben zu verkaufen, und was man davon halte, wenn Del Shannon die Band produziere?
Da wurde Drummond, dessen Respekt vor dem „Independent-Gedanken“ gering war, weich. Im November 1979 unterschrieben seine Schützlinge einen Vertrag bei Sire für die US A und dem neuen WE A-Label Korova für den Rest der Welt. „Mein Job „, schrieb Drummond später, „wares nun, Echo & The Bunnymen dazu zu bringen, die größte Band der Welt zu werden.“
Dazu mußte zunächst ein Drummer her. Das Angebot in der Liverpooler Szene war karg, also engagierte man auf einen Tip von Dave Balfes Bruder Kieran hin Pete de Freitas, Sohn von Einwanderern aus Trinidad, ohne ihn spielen gehört zu haben. Erbesaß ein Schlagzeug, das genügte. Auch was Produzenten anging, war Liverpool (noch) eine Wüste, und so erklärte sich Drummonds Ex-Bandkollege Ian Broudie (später Lightning Seeds) bereit, sich ans Mischpult zu setzen – nach zwei Songs gab er entnervt auf, den Rest erledigten Balfe und Drummond selbst. Das Album, das im Sommer 1980 erschien, hieß crocodiles, wurde von der Presse gefeiert, und der Rest ist Popgeschichte: Hits, klassische Alben, Streitereien, Trennung, die Band ohne McCulloch (von Smiths-Gitarrist Johnny Marr „Echo & The Bogusmen“ getauft), der Tod von Pete de Freitas, eine Generation von Epigonen (bis hin zu Coldplay), Wiedervereinigung und schließlich die Reife des (mittleren) Alters. „Ich wußte von Anfang an, daß wir die Größten waren“, sagte Ian McCulloch viele Jahre später, „die coolste Band auf dem ganzen elenden Planeten, von Velvet Underground vielleicht mal abgesehen.“
Dave Balfe nutzte seine Erfahrungen mit Zoo und den Bunnymen, gründete eine neue Firma (Food Records), signte eine junge Band namens Blurund verdiente sich mit seiner Spürnasigkeit ein prachtvolles „Country House“. Und Bill Drummond landete mit KLF selbst einen Hit, verbrannte mit der „K Foundation“ zu Kunstzwecken eine Million Pfund und schrieb 1997 ins Booklet der Bunnymen-Best-of-CD:
„Wir saßen im Laderaum eines Lieferwagens auf der Autobahn. Niemand war am Steuer, und keiner wußte, wohin wir fuhren. Die Reise begann 1578, irgendwann Mitte der 80erfiel ich aus der Hintertür. Ich stand auf, klopfte mir den Staub aus den Klamotten und ging davon. Ich liebe Echo & The Bunnymen mehr, ab ich je zuvor und seitdem eine Bandgeliebt habe.“
www.bunnymen.com