Die Kunst ist ein Schlupfloch


Die Dresden Dolls sind nicht einfach nur lustiges Musiktheater. Sie erzählen auch so einiges vom Leben. Sie sind aber auch und mit gutem Grund: lustiges Musiktheater.

Von ihrem Debüt verkauften sie hierzulande mehr als zehntausend Stück. Dabei wußte anfangs niemand so recht, wen genau die Dresden Dolls mit ihrer eigenwilligen Mischung aus Rock, Kabarett und Pop ansprechen sollten. Nun, im Zweifel jeden, der ein Ohr riskiert. Beim zweiten Album YES, VIRGINIA … stellen sich solche Fragen nicht mehr – dafür ausreichend andere.

Amanda Palmer steht in der Hotelbar und kämpft kichernd mit der Schwerkraft. Mit der einen Hand hält sich die Sängerin an ihrem Kollegen Brian Viglione fest, während sie mit der anderen versucht, eine berüschte Baby-Doll-Unterhose unter ihrem riesigen schwarzen Tüllrock unterzubringen: „Man kann nie wissen, wofür die noch gut sein könnte“, sagt sie und lacht. Brian lächelt milde. Sein Anzug paßt perfekt zu Amandas Rock und Corsage, obwohl sie sich nicht abgesprochen haben. Vor genau einer Viertelstunde waren beide noch nackt und ungeschminkt. Nun geht es in voller Montur in die Hotelküche zur Fotosession, wo die zwei ausgiebig mit dem jungen Gemüse herumalbern. Sie sind spät dran, weil Amanda noch dringend einen Massage-Termin zwischen all die Foto- und Interviewtermine schieben mußte. „Sonst hätte ich nur schlechte Laune gehabt“, erklärt sie.

Nach den Fotoaufnahmen wischt sich die Sängerin mit dem Handrücken den Lippenstift aus dem Gesicht, nimmt auf einer Bank in der Bar Platz und öffnet erleichtert den Reißverschluß ihrer Corsage, während Brian ihr sein Jackett um die Schultern legt. Die beiden sind Routiniers – in jeder Hinsicht. Selbst ihre Freundschaft wirkt gewissermaßen professionell. Doch gleichzeitig wohnt in ihnen eine große Begeisterungsfähigkeit, mit der sich dieses krude Duo selbst konterkariert. „Beim ersten Fotoshooting harten wir gar nichts an“, erzählt Amanda und schiebt eine sehr menschliche Erklärung hinterher: „Dabeiging es uns gar nicht darum, uns auszuziehen. Wir sind ja nicht John undYoko. Ich hatte nur überhaupt keine Lust, mich anzuziehen. Ich hatte schrecklich miese Laune. Eine Stunde später habe ich dann meine Periode bekommen. Jetztweiß ich wenigstens, woran es gelegen hat.“

Amanda Palmer will niemanden vor den Kopfstoßen; sie ist lediglich eine sehr aufmerksame Beobachterin und will das, was sie sieht, mitteilen. Sie begegnet der gesamten Welt – sich selbst eingeschlossen – mit dem Wunsch, nicht weniger als alles verstehen zu wollen. „Und es ist nur logisch, bei mir selbst anzufangen“, sagt sie: „Manchmal mache oder sage ich Dinge, die sehr unüberlegt sind, die gefährlich sein könnten. Zumindest, wenn man davon ausgeht, daß einem nicht die ganze Welt automatisch wohlgesonnen ist. Aber ich kann einfach nicht anders. Brian bremst mich glücklicherweise manchmal. Das ist, vor allem wenn es um die Show geht, wichtig.“ Brian, der noch immer seine Melone trägt, stimmt Amanda fast zärtlich zu: „Du bist impulsiver als ich. Doch das tut mir auch gut. Ohne dich würde ich mich auf der Bühne nicht trauen, eine derartige Show zu veranstalten.“ Amanda kichert: „Und ohne dich würde ich manchmal völlig vergessen, daß die Musik im Vordergrund steht.“

Es folgen ein paar Sekunden pure Seligkeit. Sie knuffen sich in die Seite; Amanda drückt Brian einen nassen Kuß auf die Wange. Der lacht angetan, schiebt aber sogleich eine sachliche Analyse nach …

BRIAN: Amanda und ich kommen aus sehr verschiedenen musikalischen Hintergründen. Wir mögen zwar beide das Musiktheater und das Kabarett, doch manchmal komme ich bei ihr einfach nicht mehr mit. Vor allem, wenn es um schnell geprobte und in die Liveshows eingebaute Coverversionen geht.

AMANDA: Ich kann doch nichts dafür, daß du mit … Trail Of Dead nichts anfangen kannst!

BRIAN: Die haben wir doch gemacht! Genauso wie deine andere Indieband, wie hieß die noch gleich?

AMANDA: The Shins. Großartig sind die!

BRIAN: Ja, ja. Aber diese komischen Briten, die konnte ich echt nicht verstehen. Wer was das gleich?

AMANDA: (Stirn in Falten, nennt 16, 17, 18 Namen …)

Brian: Ist ja auch egal. Amanda ist auf jeden Fall sehr begeisterungsfähig, wenn es um das ganze hippe Zeug geht. Ich mag halt lieber Jazz.

AMANDA: Einigen konnten wir uns aber trotzdem auf Britney Spears. Und das war kein ironischer Kommentar: „Baby One More Time“ ist ein brillanter Song. Ich wünschte, ich hätte ihn geschrieben. Nicht, daß es den Songs Amandas an Brillanz mangeln würde. Treibende Kraft hinter ihnen ist Amandas selbstreflexive Auseinandersetzung mit dem Leben wie der bereits beschriebene Drang, sich möglichst alles erklären zu können. So behandeln die Tex- te kulturelle Fragen und Geschichte ebenso wie persönliche Erfahrungen und intime Beobachtungen . Womit wir wieder bei der freimütig verkündeten Ursache für ihre vormittägliche Unlust wären, sich anzuziehen: „Ich habe das große Glück, eine sehr schöne Kindheit verbracht zu haben. Ich habe es nie für nötig gehalten, meine Schwächen und Ängste zu verbergen.“ Brian nickt: „Du bist ein offenes Buch. Das ist manchmal ganz schön gefährlich.“ Amanda nickt nachdenklich, doch im nächsten Moment verteidigt sie ihr Lebenskonzept inbrünstig: „Wenn man sich selbst öffnet, entwaffnet man seine Feinde. Wenn ich mich selbst aufschlitze und den anderen mein Innerstes präsentiere, weshalb sollten sie sich dann noch die Mühe machen, mich ein zweites Mal aufzuschlitzen?“

Gleichzeitig begreife sie nur zu gut, daß die Welt der Kunst ein veritables Schlupfloch sein kann, sein muß. Eine Hintertür, durch die man sich verdrücken kann, wenn es in der Realität zu brenzlig wird. Und das gilt nicht nur für sie selbst: „Natürlich ist es wichtig, in der Kunst auch die Probleme des Alltags zu thematisieren. Aber sie muß eben noch mehr leisten. Verschnaufpausen bieten, Momente, in denen man das Leid für kurze Zeit vergessen darf, damit man nicht daran zerbricht.“

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