Die Tour


Müller macht Mobil: Pfeffer im Arsch, Hallelujah auf den Lippen

November ´89. Fallingbostel in der nähe von Hannover ist der Austragungsort des ersten Konzertes. Nach mehrwöchigen Proben und monatelangen Vorbereitungen wird in der „Heidmarkhalle“, eigentlich noch außer Konkurrenz, die HALLELUJA-Tournee gestartet. Zu der MMW-Entourage gehören ca. 50 Leute, unterteilt in „Staff“ und „Band“. Die einen arbeiten – mit den unbedingt nötigen Schlafpausen – rund um die Uhr, damit die anderen zwei Stunden lang auf der Bühne brillieren können.

Drei riesige Schlepper mit der Aufschrift „Rock´n´Roll-Trucking karren alles durch die Gegend, was das fahrende Volk so braucht: Bratpfannen, Instrumente, Kofferbüro, Lautsprecherboxen,  Computer, Lampen, Traversen, Dampfbügeleisen, you name it. Zwei komfortable Reisebusse, einer ausgestattet mit Schlafkojen für lange Nachtfahrten, kutschieren Crew und Band von Ort zu Ort. Die Voraussetzungen für den 28 Städte umfassenden HALLELUJA-Trip sind optimal. Das aktuelle Westernhagen-Album ist ein Verkaufsknüller, der zur allgemeinen Überraschung den Rekordsprung von null auf Platz eins schaffte. „Das war für viele so“, grinst Marius, „als hätte Remscheid den Europapokal gewonnen.“

Westernhagen (wieder) auf der Siegerstraße: Aus allen Ecken der Republik kommt dieselbe Meldung: „Ausverkauft!“ In Hamburg, der Wahlheimat des gebürtigen Düsseldorfers, ist die Nachfrage so groß, daß man drei Konzerte hintereinander anberaumen muß. Marius kann seine Freude darüber nicht verhehlen. Vergessen die Zeiten, wo er versuchte, sich aus dem „Theo“-Korsett zu befreien. Passe die Tage als personifizierter Schutzheiliger der „Jeans- und Turnschuhgeneration“. Vorbei die Jahre, in denen er – musikalisch fehlgeleitet – von seinem Kurs abgekommen war und vergangenen Erfolgen hinterherlief. Mit 41 Jahren ist er wieder voll da. Oder, in seinen eigenen Worten: „Feuer aus allen Rohren!“

Es hat lange genug gedauert. Den ersten Zenith durchschritt er Anfang der 80er. Als großmäuliger LKW-Fahrer, als Zocker, der ständig verliert, als Loser, für den es ständig was auf die Fresse gibt: die Prinzenrolle mit Pfefferminzgeschmack. Damals stieg ihm, wie er heute selbst weiß, der Erfolg zu Kopf. Oder anders: Er ängstigte ihn.

Die Wirkung blieb nicht aus: Verunsicherung auf der ganzen Linie. Die Presse druckte wohlgemeinte Warnungen. War es Arroganz, daß Westernhagen sich jeden Artikel zum Gegenlesen vorlegen ließ? Oder einfach Unsicherheit? Unsicherheit im Umgang mit denen, die ihm erst aus der Hand gefressen hatten, um ihn dann mit Messer und Gabel zu verspeisen. Westernhagen schottete sein Privatleben ab und lief – als nichts mehr ging – Amok gegen sein eigenes Image. Gab es denn wirklich kein Mittelding zwischen tödlicher Umarmung und vernünftiger Nähe? Damals wohl nicht, heute schon.

Kaiserwetter in Mainz. Die Rheingold-Halle, ein antiseptischer Mehrzweckbau, erstrahlt im Sonnenglanz dieses winterlichen Spätnachmittags. Draußen lungern bereits einige Unermüdliche herum, drinnen das übliche Aufbau-Chaos. Der Tourneebetrieb funktioniert nach den strengen Regeln eines geheimen Rituals. Wenn man all diese Flightcases sieht, das feine Geäder der Kabel, weiß man, das kann einfach nicht klappen. Vor allem nicht in dieser knapp bemessenen Zeit bis zum Einlaß. Und doch! Abends ist dann alles parat: Licht, Ton, Monitorsound, die Sprudelflaschen stehen an der richtigen Stelle auf der Bühne. Der Bademantel, in den Westernhagen eingewickelt wird, hängt an seinem Platz.

Es ist kurz nach vier, die Band ist noch nicht eingetroffen. Die „Wühlmäuse“ beherrschen das Feld. Hier sitzt jeder Griff, Profis. Am Ende eines langen Ganges, der schlechte Schul-Erinnerungen weckt, finde ich Tourmanager Hauke Tedsen. Auf dem Schild an der Tür steht ,.Production Office“. Hier laufen alle Fäden zusammen. Hier gibt’s als eine Art Mobiles Einsatzkommando jede nur denkbare Bürotechnologie. Ein portables Telefaxgerät, ein schnuckelig kleiner Printer, der just an diesem Tag und sehr zum Leidwesen von Hauke den Geist aufgibt. Von der Büroklammer bis zum Laptop findet alles seinen Platz in einem Schrankkoffer, den ein Organisationstalent eigens für die Bedürfnisse einer reisenden Rock ’n‘ Roll-Band konzipiert hat. Fächer für Briefpapier und Rechnungsformulare, selbst ein Schließfach für Wertsachen – an alles ist gedacht.

Plötzlich kommt Leben in die Bude: Die Band ist eingetroffen! Für Fünf ist der Soundcheck angesetzt. Die Menschentraube vor der Halle wächst. Vorwiegend Jungvolk. Westernhagen strahlt. Frankfurt, wo sie zwei Tage zuvor ein ausverkauftes Haus hatten, war „euphorisch“. Und Ehefrau Romney rollt mit den Augen: „Es war, als hätte man wilde Tiere losgelassen. “ Aus dem Catering-Raum, wo Babett und Bea ein freundliches Regiment führen, steigen vertraute Düfte. Das ist noch so eine Regel: Kaffee, Tee und einige kalte Getränke müssen immer griffbereit sein.

Westernhagen bei der Arbeit, das Orchester stimmt sich ein. Das Blech jagt ein paar feingezirkelte Fanfaren gen Hallendecke. Christian Schneider, Gitarrist und Saxofonist. hält ein Solo dagegen. Der englische Gitarrist Jay Stapley entlockt den Saiten ein wüstes Gebrüll. Bassist Raoul Walton streichelt sein Instrument gegen den Strich. Das nervigste beim ganzen Soundcheck ist die Einstellung des Schlagzeugs: Immer wieder der dicke Bumms auf die Baßtrommel, zigmal hintereinander das Schnarren der Snare, jedes einzelne Tom – es ist Tortur. Deshalb wird das Grobe schon von den Roadies erledigt, bevor die Truppe anreist.

Fast unbemerkt gibt Westernhagen ein Signal, und im nächsten Moment ertönt „Illusion“, viel zu laut für die leere Halle. Der Monitormix, also die Lautstärke, in der sich die Musiker selbst auf der Bühne hören, wird überprüft oder verändert. „Gib mir mal mehr dies oder das… auf den Monitor“, lautet die Standardanfrage, quergebrüllt durch den leeren Saal. Vor dem dritten Song, der kurz angespielt wird, wirft Westernhagen die Rumhänger und Zaungäste raus: „Das Gerenne stört mich enorm!“

Binnen weniger Minuten sind die Musiker und Techniker unter sich. Noch eine Regel: Es gibt bei einer Tournee nichts Wichtigeres außer der Show. Selbst die Tatsache, daß die DDR die Mauern geöffnet hat, scheint hier zweitrangig. Das geheime Ritual: Alles, was nicht direkt hier mit diesem Konzert zu tun hat. hat Zeit bis nachher. Jeder weiß das.

Die Band – mit Keyboarder Zerlett, Trommler Charlie T. und den drei Bläsern insgesamt acht Mann stark – ist heiß. Die Proben deshalb schnell vorbei. Draußen wachsen die Schatten und die Westernhagen-Fans.

Insgesamt kommen sechstausend, um diesen schmächtigen Kerl mit dem „Narbenherz“ zu sehen und zu hören. Den Mann, der ihre Wut stellvertretend auslebt. Den Mann, der ihre Probleme kennt und präzise formuliert. Den Mann, der nicht predigt und missioniert, sondern die Dinge beim Namen nennt: „Geiler Is Schon“. Den Mann, der nicht Wortschaum schlägt, sondern „Hintern“ sagt, wenn er einen vor sich sieht. „Ich hab meinen Spaß/Du hast deinen Spaß/Ne trau und ein Mann/Darauf ist Verlaß/…Dein Hintern ist rund/Die Sünde dein Mund/Süsser Gestank/vor Geilheit ganz krank.“

Einen Haken hat die Sache allerdings: Die besungenen Probleme hat er gar nicht mehr. Er ist glücklich, verheiratet und erfolgreich wie nie zuvor. Vielleicht kann er gerade deshalb wieder jene Person glaubhaft machen, die ihm jahrelang im Weg gestanden hat: Müller-Westernhagen, Rock ’n‘ Roll-Sänger.

In der Backstage-Area greift der Tournee-Alltag: Ein Grüppchen sitzt beim Essen, Hauke hockt immer noch über seinem Laptop, Coordinator Rolf Steffen, die Manndeckung für den Künstler, lädt zu einem informellen Plausch: Westernhagen erzählt. Selbst auf Tour müsse er überschüssige Energie abtrainieren. Der Hometrainer und einige Hanteln gehören zum Gepäck. Er erklärt, warum er Theaterlicht mit einer Grundfarbe den üblichen Farb-Orgien vorziehe, daß die Songauswahl bis zum PFEFFER-MINZ-Album zurückgeht, weil das „ganz frühe Material nicht trägt, und daß es einige Titel gibt, die ich einfach bringen muß“: „Mit 18″, „Dicke“, „Johnnie Walker“, „Mit Pfefferminz“.

Die letzte Stunde vor dem Auftritt gehört Westernhagen und seinen Musikern – allein, ohne Zaungäste. Es heißt Kraft tanken für einen zweieinhalbstündigen Marathon. Romney, die die Geschehnisse mit Videokamera festhält, ist mit dem Bügeln des Anzugs beschäftigt. Koordinator Steffen geleitet uns zur Tür.

Westernhagen auf der Bühne, die Band in Aktion: laut, kraftvoll, trotzdem differenziert. Kaum ist der Vorhang beiseite geschoben, braust frenetischer Applaus auf. Was für ein Empfang! Westernhagen schüttelt kaum merklich den Kopf, als wolle er sagen: „Das gibt es doch gar nicht!“ Und was hier zweieinhalb Stunden lang abgeht, ist wirklich die berühmte Ausnahme von der Regel. Es reichen Andeutungen, um Beifallsstürme zu entfachen. Wie kein Zweiter in der Rockrepublik spielt er auf der Klaviatur der Emotionen: die im Vorüberjagen geschüttelten Hände, die rhetorischen, aber immer noch wirkungsvollen Fragen: „Fühlt ihr euch guuuut?“ Wie er beschleunigt, wenn die Konzentration seiner Hörer nachzulassen droht, wie er das Tempo drosselt, wenn man vor Begeisterung aus der Kurve fliegen will – das zeigt den souveränen Entertainer.

Ein Beispiel seiner Bühnen-Souveränität gibt er am nächsten Abend in Stuttgart. „Gestern in Mainz waren es 6000, davor in Frankfurt 4000, heute sind’s 8000. “ Kleine Kunstpause. „Aber die in Mainz waren viel lauter als ihr!“ Das gewünschte Dezibel-Gewitter bricht los.

Wie er das Stimmungsbarometer steigen und fallen läßt, das macht ihm so schnell niemand in Deutschland nach. Er kann es sich sogar leisten, ein „Ich liebe euch“ in den Saal zu schmettern. Die Band hat die Zuschauer längst weichgespielt, die Seele massiert mit diesem Kraftfutter aus deftigem Rhythm & Blues, wiegendem Reggae, rasantem Boogie und kompromißlosem Rock. Die Balladen sind dann das Tüpfelchen auf dem i. Das Saxofon von Schneider schluchzt, Westernhagen singt: „Weil Ich Dich Liebe“, und die Feuerzeuge verbreiten Festglanz in der tristen Halle.

Konzerte vom Marius Müller Westernhagen sind großartige Inszenierungen eines Stückes namens „Rock ’n‘ Roll“: genau die richtige Mischung aus Gefühlsduselei, Schweiß und Freudentränen. „Nimm Mich Mit“, singt Westernhagen zum Ende des offiziellen Programms und wird dann von seinem Publikum noch zweimal nach draußen gepfiffen. Koordinator Steffen wickelt danach den naßgeschwitzten Kämpfer in einen Bademantel – ein Coach und sein Champion.

Eine halbe Stunde später geht der Backstage-Alltag los. Steffen erzählt Trabi-Witze und bewacht die Tür, hinter der Romney und Marius essen. Jay sucht seine Frau: „Who stole my wife, have you seen … ?“ Hauke hockt über dem Computer. Die „Accountants“ rechnen ab. Westernhagen steckt den Kopf aus der Tür, blinzelt in die Runde. „Und?“ fragt er. „Halleluja, Herr Westernhagen.“