Elvis Costello & Tom Waits: Talking Heads


Der eine hat die Denker-Brille auf der Nase, der andere hat schon lange die Nase voll vom oberflächlichen Pop-Gelaber. Wenn aber Elvis Costello alleine mit Tom Waits an einem Tisch sitzt und in Sekundenschnelle die Grauen Zellen rauchen, fällt so mancher voll in die Bildungslücke: Natur-Filme und Linienbusse, lebende Mikro-Chips und verschlüsselte Molekular-Strukturen - das ME/Sounds-Abhörmikrofon lief heiß bei diesem Diplom-Disput.

Ein kleines chinesisches Restaurant, „The Red Eight“, ein paar Kilometer westlich von downtown Los Angeles. Die Farbe der Wände erinnert an eine Nervenheilanstalt. Kaum jemand verirrt sich hierher. Genau das richtige für einen professionellen Chaoten wie Tom Waits.

Waits, der in der Nähe wohnt, hängt tagsüber ziellos in der Stadt herum und widme! seine Nächte „Demon Wine“, einem Theaterstück, in dem er zur Zeit auftritt. Heute Nachmittag hat er eine Lunch-Verabredung mit einem Musikerkollegen, der gerade seiner neuen Plattenfirma in L.A. einen Besuch abstattet, um seinen Interview-Pflichten nachzukommen und ein paar wichtige Hände zu schütteln. Ihre Wege haben sich bereits ein paarmal gekreuzt, sie haben des öfteren Musiker getauscht und pflegen eine Freundschaft, die auf gemeinsamen Interessen und gegenseitigem Respekt beruht.

Costello läuft als erster im „Red Eight“ ein; seine Frau Cait O’Riordan begleitet ihn. Wenig später taucht Kathleen Brennan mit Ehemann Tom Waits im Schlepptau auf. Waits, wie immer exzentrisch, erscheint in zu kleinem Anzug und mit leuchtendroten Haaren, die er sich für die Theateraufführung zugelegt hat. Die Farbe wächst bereits heraus, an den Wurzeln werden graue Strähnen sichtbar.

Es folgen Umarmungen und Begrüßungen, worauf Kathleen und Cait Arm in Arm in Richtung des Waits’schen Wohnsitzes entschwinden. Ein paar Mitläufer verabschieden sich ebenfalls, und so bleiben im „Red Eight“ nur eine Kellnerin, Elvis Costello und Tom Waits zurück.

MUSIK UND NATUR

Elvis: Immer wenn ich mit dir rede, habe ich seltsamerweise gerade einen von diesen Naturfilmen gesehen …

Tom: Oh, ich liebe diese Sendungen. Für sowas würde ich gern mal die Musik schreiben. Vielleicht werden diese Filme irgendwann das einzige sein, was von der Natur noch übrig ist. Die Kamera schwenkt ein bißchen nach links, und schon taucht neben den interessanten Seevögeln am Strand so ein riesiger Hotelkomplex auf…

Elvis: Und diese hübsche Verpackung, die von der letzten Filmexpedition übriggeblieben ist, wahrscheinlich eine Kodak-Schachtel. Ich hab mal einen Film über Eisbären gesehen, wo dieser Typ tatsächlich sagte: „Der Eisbär hat keine natürlichen Feinde. So weit im Norden gibt es keine Jäger. Das einzige, was sie in ihrer Idylle stören könnte, sind Naturfilmer.“ (lacht) Ein anderes Mal gab es was Interessantes über die Wahrnehmung von Tieren: Sie zeigten Dinge so, wie Insekten und Vögel sie sehen, zum Beispiel Blumen – die Blumen hatten ganz andere Farben. Mir kommt das so vor, als wären wir diejenigen, mit deren Optik was nicht stimmt, weil wir die Blumen ja nicht befruchten, außer vielleicht aus Versehen. Während die Blumen diese Farben schließlich für die Insekten entwickelt haben. Gänseblümchen sind also nicht gelb und weiß, sondern lila und orange oder sowas. Übertrage das auf Musik und dir wird klar, daß manche Leute bestimmte Sachen einfach nicht wahrnehmen. Wenn einer den ganzen Tag nichts anderes hört als Metallica, ist er irgendwann so voll von diesem Heavy-Metal-Zeug, daß er sowas wie ein Banjo oder eine Mundharmonika physisch einfach nicht mehr wahrnimmt.

Tom: Also, Frauen reagieren erwiesenermaßen auf ein anderes Klangspektrum als Männer.

Elvis: Und Rhythmus. Frauen hören Rhythmus anders als Männer. Meinst du, es gibt biologische Gründe, warum so viele Mädels Baß spielen?

Tom: Keine Ahnung. Ich brummel eh lieber in den akustischen Niederungen. Kathleen versucht immer, mich die Tonleiter raufzujagen und mir die höheren Werte schmackhaft zu machen, denn wenn man mich nicht ab und zu auf was Positives hinweist, entdecke ich immer nur Brauntone. Natürlich sind sie irgendwie auch rötlich oder gelblich, aber immer mit einem kräftigen Braunstich. Kathleen geht das manchmal ganz schön auf den Nerv, sie sagt dann immer „was du hier gerade geschaffen hast, ist schon wieder nur Schlamm, dreckiges Wasser.“ Was ganz interessant ist, weil ich nämlich wirklich farbenblind bin. Ich jongliere so herum mit braun und grün und blau und rot – grün sieht für mich braun aus, lila ist blau und umgekehrt. Ich sehe die Welt nicht in schwarzweiß, aber bei der Luftwaffe würden sie mich wohl trotzdem nicht nehmen.

Elvis: Also, ich sehe definitiv alles in Farbe. Die vorletzte Platte war rot und braun, Blut und Schokolade. Ich hatte ein Bild von einem rotbraunen Zimmer im Kopf, und fast alle Songs spielten sich darin ab … Aber was die meisten Platten zusammenhält, ist letztlich die Persönlichkeit des Sängers und der Wille, über ganz unterschiedliche Dinge zu schreiben.

Tom: Auf Platte wird dann so etwas wie eine Sammlung daraus, und vielleicht entwickeln sie schließlich einen inneren Zusammenhang, eine Logik, die du ursprünglich gar nicht beabsichtigt hast. So wie eine Gruppe von Leuten, die gerade aus dem Bus gestiegen sind: Irgendwie scheinen sie auf einem gemeinsamen Trip zu sein. Du nimmst einfach an, daß da eine Beziehung besteht.

Wenn ich Tapes zusammenstelle, nur so für mich, zum Spaß – pakistanische Musik und Bobby Blue Bland nebeneinander – dann gibt es da eine gewisse Logik. Aber zuviel Musik auf einmal kann ich auch nicht verdauen; man muß ein bißchen auf Diät gehen, sonst wirst du vollgestopft, bis du platzt. Wenn du dann längere Zeit ohne Musik gelebt hast, hörst du auf einmal Sachen, die keiner sonst mitkriegt.

Elvis: Vor kurzem habe ich im Flugzeug im „Finnair-Magazin“ was über Jean Sibelius gelesen. Er konnte beim Komponieren nicht das Fenster offen haben, weil sonst das Gezwitscher der Vögel sofort

kompositorisch verewigt worden wäre. Deshalb mußte seine Familie vorher immer die Vögel verjagen. (Lacht) Tom: Steve Allem pflegte sich unter Telefonleitungen zu setzen, und wenn die Vögel sich auf dem Draht niederließen, schrieb er das auf – die Leitungen waren die Notenlinien und die Vögel die Noten. Und dann spielte er das.

AMEISEN UND COMPUTER

Elvis: Kannst du eigentlich Partituren schreiben? Tom: Nein. Aber ich habe mein Gedächtnis so trainiert, daß ich diese Unfähigkeit ein bißchen ausgleichen kann … mein ganz privates kleines Kompositionssystem.

Elvis: Jaja, unleserliche Hieroglyphen und ein paar kryptische Randbemerkungen. Und vor sich hin summen, das ist auch sehr nützlich.

Tom: Ein paar Sachen gehen dir dabei immer verloren, aber dafür öffnest du dich wieder für andere Dinge.

Elvis: Heutzutage können einem die Computer ja alles vorkauen … Es gibt jetzt sogar Schlagzeugcomputer, die man auf „menschlich“ programmieren kann. (Lacht) Wie menschlich? Ich kenne ein paar Drummer, die spielen nicht annähernd so menschlich wie Computer!

Tom: Jaja, die industrielle Revolution. In Hollywood hatten sie früher riesige Streichorchester, fest angestellt. Heute machen sie die Filmmusik zuhaumit zwei Finnern. Das hat verheerense de Folgen für die Studiomusiker gehabt…

Elvis: Ich war mal bei Plattenaufnahmen dabei, da hatten sie dieses große Ding vorm Studio, muß so etwas wie ein Synclavier gewesen sein, sah aus wie eine eiserne Lunge … So ein Sound macht mich mißtrauisch. Das klingt wie Schaumstoffmöbel, genauso leblos und gefährlich. Ganz nett zum Sitzen, aber wenn das Haus anfängt zu brennen, sind es diese Dinger, die es endgültig in Flammen aufgehen lassen. Und dieser Sound ist wie schaumstoffgefüllte Musik, hat überhaupt keine Bedeutung. Manche von diesen Synthesizern klingen, als ob sie sich mächtig anstrengen. Sie tuckern um ihr Leben, jede Menge Mikrochips. die schuften wie verrückt, nur um diesen unbedeutenden Sound zu produzieren.

Tom: Wie ein Ameisenhaufen. Da drin geht eine Menge ab …

Elvis: Genauso diese Sampling-Sache – eine großartige Idee, finde ich. Nur hat noch noch keiner herausgefunden, wie man das richtig einsetzt. Diese Typen denken nicht weiter als „Wir müssen die obercoole Platte mit dem irrsten Sound aller Zeiten machen“, und sie kombinieren dann Sachen, die durch die Gegenüberstellung nur verlieren.

Tom: Mir gefällt das. Ich weiß, daß es da Probleme mit Verlagsrechten und sowas gibt, aber sie zeigen uns immerhin, wenn auch vielleicht ungewollt, wieviel Klischees in den Sachen steckt, die wir tagtäglich hören.

Elvis: Ich glaube, Rock ’n‘ Roll wurde populär, als es so viele schlechte Swingbands gab, daß Rock vergleichsweise lebendig klang. Was die Leute hörten, war nicht Stan Kenton oder Count Basie. Viele hörten Bands, die heute zum Glück keiner mehr kennt.

Tom: Das war, als Jazz die Stützstrümpfe anzog und in Rente ging.

FREUD UND LEID DER KREATIVEN

Elvis: Manchmal schreibe ich Sachen, die ich gar nicht singen kann. Du schreibst was und zuhause singst du’s so, daß die Nachbarn oder die Kinder nicht aufwachen, und du denkst dir: „Oh, die Note schaffe ich sicher“. Und wenn es dann ernst wird und du auf einmal hechelnd dastehst, wird dir klar, so geht’s nicht, weil du keine Luft mehr für die nächste Zeile hast. Solche Sachen passieren mir dauernd, manchmal muß man es dann einfach ändern, und ein bißchen von der Seele des Songs geht verloren.

Tom: Das ist, als ob du etwas übersetzt. Überleg mal, vom Kleinhirn in die Fingerspitzen, das ist ein langer Weg, da kann unterwegs eine Menge passieren. Manchmal höre ich meine eigenen Sachen und denke: „Oh je, die Idee, die ich ursprünglich hatte, war so viel besser als diese Mutation, auf die wir uns schließlich geeinigt haben.“ Mittlerweile versuche ich, solche Ideen am Leben zu erhalten. Aber genausogut kannst du Wasser mit den Händen tragen. Manchmal kommst du im Studio an, und es nichts mehr übrig.

Elvis: Dieses Bild mit dem Wasser ist gut – wenn du einen Song hast und eine Vorstellung, wie er klingen soll, und dann mit erfahrenen Musikern daran arbeitest, steht dir die Vielseitigkeit auf einmal im Weg, weil Sachen geändert werden können, bevor sie überhaupt richtig entwickelt wurden. Ich glaube, deswegen haben manche Bands soviel Erfolg mit der Idee, einfach die Instrumente zu tauschen. Wenn du nicht dein eigentliches Instrument spielst, kannst du dich von der ursprünglichen Idee nicht so weit weg bewegen. Aber wie ist es erklärbar, wenn eine völlig ahnungslose Band großartige Platten macht?

Tom: Ich finde, das ist ein ziemlich arroganter Standpunkt, weil sich zuviel musikalischer Durchblick irgendwann negativ auf deine Entwicklung auswirken kann. Das passiert mir dauernd. Das Drei-Akkorde-Syndrom… Meistens beruht Musik auf Übereinstimmung zwischen allen Beteiligten. Aber das ist nicht alles. Du wartest auf die genialen Fehler. Die meisten Veränderungen in der Musik, die aufregendsten Sachen resultieren aus Mißverständnissen – „Ich dachte, du hättest gesagt…“ Bei Lyrik ist es dasselbe. Songtexte dito … Kathleen hörte in diesem Song von Creedence Clearwater, „Bad Moon Rising“, statt „there’s a bad moon on the rise“ immer „there’s a bathroom on the right‘. Das ist wirklich daneben, ein Song über ein Klo. Solche Fehler liebe ich. Jeder sollte ab und zu mal so danebenhauen.

DIE WELT ALS DORF

Elvis: Wenn du unterwegs bist, kommst du unweigerlich auf diesen Touristen-Trip … du weißt schon, du kaufst im Urlaub irgendwelchen Blödsinn und zuhause stehst du dann vorm Spiegel und denkst: “ Um Himmels willen, bin ich wirklich so herumgelaufen?“ Das gilt auch für Musik, glaube ich. Früher habe ich auf Reisen Tapes gekauft und war völlig davon überzeugt, ich hätte soeben die großartigste Musik aller Zeiten entdeckt. Und dann komme ich nach Hause und höre sie in einer völlig anderen Atmosphäre.

Tom: Das ist eben eine andere Welt. In Texas Opern zu hören ist aufregend, in Rom kräht kein Hahn danach. Mir geht das auch so, ich kaufe Musik aus Pakistan, balinesisches Zeug, nigerianische Volkslieder und sowas, und wenn ich diese Sachen an ungewöhnliche Orte mitnehme, hat der Ort genausoviel mit der Wirkung zu tun wie die Musik selbst.

Elvis: Meinst du, Weltmusik ist nur einer von vielen überschätzten Trends? Tom: Ich glaube, mit der Pop-Industrie ist es dasselbe wie mit jeder anderen Wirtschaftsbranche: Auf kurz oder lang müssen neue Märkte geschaffen werden. Der Marco-Polo-Effekt – du entdeckst ein paar neue Gewürze und peppst damit die heimischen Gerichte auf.

Elvis: Seit einiger Zeit konzentriere ich mich auf Gegenden, zu denen ich eine gewisse, wenn auch vage Beziehung habe…

Tom: Klar, deine Gene, deine Knochen, überhaupt deine ganze Molekül-Struktur, enhalten schließlich auch musikalische Informationen. Als ich das erste Mal wirklich intensiv irische Musik hörte, hatte ich das Gefühl, daß mir diese Musik sehr nahe steht. Elvis: Mir ging das so mit der Dirty Dozen Brass Band. Als ob du aus einem Traum aufwachst und feststellst, hey, diese Musik ist tatsächlich real. Der Sousaphon-Spieler, Kirk Joseph, ist wirklich ein Star, es ist unglaublich, daß jemand auf einem so behäbigen Instrument so gewandt sein kann.

Tom: Ich liebe das Sousaphon. Hat was von einem Tänzchen mit einer sehr dicken Lady – wenn du die Sache nicht völlig im Griff hast, bist du verloren.

Elvis: Die Italiener sind da viel flexibler. Neulich bin ich bei einer TV-Show in Rom aufgetreten. So ein Publikum hatte ich noch nie: schöne junge Männer in Seiden-Sakkos und dutzende von lockigen Mädchen mit endlos langen Beinen, knappen Hemdchen und kurzen Röckchen. Und denen hat alles gefallen: ein italienischer Schlagersänger, mein R&B, Buckwheat Zydeco nach mir und am Schluß sogar ein Clip mit dem längst verstorbenen BeBop-Saxophonisten Ben Webster.

Tom: Das ist das schöne am Showgeschäft. Nur in dieser Branche kannst du Karriere machen, obwohl du seit Jahren tot bist.