Pop- und Rockgeschichte

Es war einmal in Seattle: Wie Grunge seinen Anfang und sein Ende nahm


Mit den Erfolgen von Nirvana, Pearl Jam und Soundgarden kam Punk vor über 30 Jahren als Reimport im US-Mainstream an. Die Alben NEVERMIND, BADMOTORFINGER und TEN bildeten die Blaupause für den Siegeszug des Alternative Rock. Ihren Schöpfern haben sie wenig Glück gebracht.

Los Angeles, 16. Januar 2019: Auf der Bühne des ausverkauften The Forum in Inglewood stehen Stone Gossard und Jeff Ament von Pearl Jam, der überlebende Nirvana-Schlagzeuger Dave Grohl, der überlebende Alice-In-Chains-Gründer Jerry Cantrell sowie die überlebenden Soundgarden-Mitglieder Matt Cameron, Ben Shepherd und Kim Thayil. Gemeinsam mit einem gewaltigen Star-Aufgebot – Metallica, Brad Pitt, Fiona Apple u.v.a. – waren sie an diesem Abend für einen letzten musikalischen Gruß an den verstorbenen Soundgarden-Sänger Chris Cornell noch einmal zusammengekommen. Das Konzert endete mit einem minutenlangen Feedback-Gewitter der Soundgarden-Rumpftruppe, das man als einen verspäteten symbolischen Grunge-Schlussstrich begreifen konnte.

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Vorbei war es lange zuvor: Ziemlich genau vor 30 Jahren hatten diese Musiker und zahlreiche andere für einige Jahre die Verhältnisse im Pop umgewälzt. Damals ging von Seattle ein Beben um die Welt, nachdem innerhalb weniger Wochen drei prägende Alben erschienen waren, die die Basis für den kommerziellen Breitenerfolg des sogenannten Grunge bildeten: NEVERMIND von Nirvana, TEN von Pearl Jam und BADMOTORFINGER von Soundgarden.

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Grunge hatte seinen Ursprung in den 80ern

Als Stichtag für die solchermaßen eingeleitete Machtübernahme im Rock hat man sich seither auf den 11. Januar 1992 geeinigt, den Tag also, an dem NEVERMIND Michael Jacksons DANGEROUS vom ersten Platz der US-Charts stieß. Ein symbolträchtiges Datum, aber die Erzählung von Grunge als überraschender Übernachterfolg verhehlt die jahrelange Basisarbeit, den insgesamt organischen Weg dieser Bands in die Heavy Rotation von MTV und die Herzen der Generation X. Die fünf Jahre, in denen Grunge aufregend war, sind ausufernd dokumentiert. Was aber ist mit dem Davor und dem Danach? Wie war es möglich, dass eine Indie-Punk-Garagentruppe aus Seattle plötzlich mehr Platten verkaufte als der King of Pop? Die ehemalige Soundgarden-Managerin Susan Silver erzählt im exklusiven ME-Interview, wie der neue Seattle-Sound in den Clubs und bei Partyreihen der Indie-Szene der Stadt bereits in den frühen bis mittleren Achtzigerjahren seinen Ursprung hatte.

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Die eigentlichen Wurzeln liegen noch weiter zurück: Punk war in den USA „erfunden“ worden, hatte dort aber eine Existenz als Nischenphänomen einer überschaubaren New Yorker Underground-Szene geführt. Erst mit dem Export nach England wurde Punk in Europa zu einem Mainstream-Ereignis, in dessen Nachgang sich überall in den USA lokale Szenen bildeten, die auf unterschiedliche Weise auf Punk rekurrierten.

So schrieb der 1979 nach Olympia, Washington gezogene Bruce Pavitt bereits damals eine Kolumne im „OP Magazine“, die er SubPop nannte, abgeleitet von Subterranean Pop. Es folgten eine gleichnamige Radio-Show und ein Fanzine, ehe Pavitt 1986 gemeinsam mit Jonathan Poneman die Plattenfirma Sub Pop gründete. „Wir wollten amerikanischer Rockmusik jenseits der Mainstream-Industrie ein Forum bieten“, sagt Poneman. „Die großen Firmen konzentrierten sich auf New York, L.A. und Nashville, es gab aber unglaublich viel gute Musik jenseits dieser Zentren.“ Ähnliche Ideen hatten parallel Musik-Enthusiast*innen überall in den USA, so entstand ein weit verzweigtes Netzwerk aus einzelnen DIY-Zellen – und diese geballte Underground-Power schwappte schließlich durch die Seattle-Bands, aber auch durch Lollapalooza, die Red Hot Chili Peppers und andere als Alternative Rock in den Mainstream.

„Jedes Album von Sonic Youth war eine Revolution“ (Eddie Vedder)

Bleiben wir in Seattle: Auf dem neu gegründeten Sub-Pop-Label erschienen die ersten Veröffentlichungen von Soundgarden, der Pearl-Jam-Vorläuferband Green River, der Proto-Grunge-Truppe Mudhoney und natürlich das Nirvana-Debüt BLEACH. Was die Seattle-Bands bei allen musikalischen Unterschieden einte, war eine mit Pop-Sensibilität betriebene Fusion der Gitarren-Subkulturen Hardcore, Metal und Punk, die Pavitt schon früh Grunge nannte. „Nirvana und wir haben all die Platten verkauft, die die Ramones, die Stooges und so viele andere vor uns hätten verkaufen sollen“, sagt Eddie Vedder von Pearl Jam. „Bereits vor Seattle gab es Fugazi, die Pixies und die ganze D.C.-Szene, da wurde das Fundament gelegt. Jedes einzelne Sonic-Youth-Album war eine verdammte Revolution. Natürlich dominierten Ende der Achtziger schreckliche Bands mit Pudelfrisuren die Charts, die respektlos gegenüber Frauen waren. Es wird immer so dargestellt, als hätten Nirvana und wir diese Bands weggespült. Tatsächlich haben aber Sonic Youth und andere schon früher Alternativen aufgezeigt.“

Chris Cornell war Seattles mächtige Stimme

Als NEVERMIND, TEN und BADMOTORFINGER erschienen, war die Grunge-Blaupause „Superfuzz Bigmuff“ von Mudhoney bereits drei Jahre alt. Nirvana hatten sieben US-Touren gespielt, Soundgarden drei Alben veröffentlicht – und die Pearl-Jam-Gründer Stone Gossard und Jeff Ament mit Green River und Mother Love Bone eine halbe Karriere hinter sich. Der Wechsel in die Major-Industrie war für diese Bands nur der logische nächste Schritt. „Wir haben damals nicht gedacht: ,Toll, jetzt werden wir endlich die größte Band der Welt‘“, sagt Dave Grohl, „wir hatten lediglich keinen Bock mehr, ständig unsere Gitarren verkaufen zu müssen, um uns Essen leisten zu können. Wir hofften, endlich unsere Mieten bezahlen zu können.“

Als NEVERMIND am 24. September 1991 erschien, spielten Nirvana eine Club-Tour vor 200 bis 300 Leuten am Abend. Ebenso wie die Mitbewerber war das Album eben gerade kein Übernachterfolg, dafür hatte die Plattenfirma Geffen zu wenige Exemplare in den Handel gegeben. Das am 27. August 1991 erschienene TEN erreichte die Nummer 2 der US-Charts sogar erst Ende 1992. BADMOTORFINGER hatte eigentlich am selben Tag erscheinen sollen wie NEVERMIND, wurde aber wegen eines missratenen Cover-Drucks auf den 8. Oktober 1991 verschoben und ebenfalls erst 1992 richtig erfolgreich. „The year Grunge broke“ war also eher 1992 als 1991.

Grunge war „woke“ – 30 Jahre bevor es den Begriff gab

Dann aber sehr: BADMOTORFINGER wurde vom amerikanischen „Rolling Stone“ zum zweitbesten Grunge-Album überhaupt gekürt, NEVERMIND hat bis heute 30 Millionen Exemplare verkauft, TEN 13 Millionen allein in den USA. Der Impact der Seattle-Bands ging aber weit über diese Zahlen hinaus. Dass regionale Szenen für einen Sound, ein Lebensgefühl, eine Weltanschauung standen, war in der Geschichte des Pop immer wieder so gewesen, mit Grunge passierte es zum letzten Mal im ganz großen Maßstab. Millionen Teenager überall auf der Welt übernahmen die Stilvorlage aus Seattle und trugen fortan Flanellhemden, Cargohosen, Dr. Martens. Sie adaptierten damit auch die Haltung der Grunge-Bands, die man heute als „woke“ bezeichnen würde. Seattle stand für ein egalitäres, feministisches Menschenbild und die Überzeugung, die kapitalistische Verwertungslogik mit aufregender Musik und einer starken DIY-Community unterwandern zu können. „Man muss den kapitalistischen Moloch ausbeuten, ihn vergewaltigen, wie er dich vergewaltigt“, hat Kurz Cobain einmal gesagt. Der Idealismus der Neunziger mag aus heutiger Sicht naiv wirken, aber es war eine globale Jugendbewegung, die die richtigen Fragen der Zeit stellte. „Als ich jung war, hätte ich meinen linken Arm gegeben, um in den Sechzigern in London dabei gewesen sein zu können“, sagt Eddie Vedder. „Später plötzlich Teil von einer Sache zu sein, die vielen Leuten ähnlich viel bedeutet wie mir die Swinging Sixties, war eine besondere Erfahrung.“

Pearl Jam hier 1992 bei Pinkpop Festival, im niederländischen Landgraaf.

Es kam bekanntlich alles ganz anders. Die Machtübernahme war von kurzer Dauer, Grunge wurde vom Kapitalismus bei lebendigem Leib gefressen und ausgespien, um bei Cobain zu bleiben. Wenn man alle Legenden für einen Moment beiseitelässt und aus heutiger Sicht noch mal einen Blick auf Grunge wirft, sind da nicht zuletzt: eine Menge prominenter Gräber. Mit Cobain, Layne Staley (Alice In Chains) und Chris Cornell (sowie jüngst Mark Lanegan von den Screaming Trees, Anm.) sind drei der vier zentralen Protagonisten dieses Genres lange vor der Zeit verstorben. An Drogen, Depressionen, Verzweiflung. Mit dem heutigen Bewusstsein um psychische Krankheiten hätte man sie oder auch Kristen Pfaff, Andrew Wood und die vielen anderen Grunge-Toten vielleicht eine Weile aus der Schusslinie genommen und sich mit ihren Problemen auseinandergesetzt. In einem Musik- und Medienbetrieb, der diese Krankheiten indirekt fördert, indem er sie romantisiert, hatten sie keine Chance.

„Ich denke immer noch jeden Tag an Kurt“, sagt Dave Grohl. „Wir waren eigentlich zu jung für diesen ganzen Wahnsinn. Man entwickelt seine Persönlichkeit, lernt das Leben kennen. Schwierig, wenn diese wichtige Entwicklung parallel zu so einer Geschichte abläuft, wie wir sie damals erlebt haben. Trotzdem: Wenn ich an Nirvana denke, dann auch an die tolle Zeit, die wir hatten. Das vergessen die Leute oft. Kurt war ein wahnsinnig witziger Typ, wir hatten eine Menge Spaß. Richtig schlimm wurde es erst am Ende.“

Warum Grunge tot und noch immer aktuell ist

Eddie Vedder blick weniger versöhnlich auf den Grunge-Hype zurück: „Wir hatten anfangs eine aufregende Zeit, aber schon bald ging es nur noch ums Überleben. Unsere Reaktion war eine Art Verweigerungshaltung, ob bewusst oder unbewusst, das ist mir heute klar.“ Pearl Jam sind heute die Nachlassverwalter des Grunge. In einem schmerzhaften Prozess ist es ihnen gelungen, mit ihren loyalen Fans ein eigenes System innerhalb des Systems zu etablieren. Den meisten anderen Seattle-Musikern ist das nicht gelungen.

Die ehemaligen Slacker auf der Bühne des Forums in Inglewood sind also Überlebende. Die wahnwitzige Energie und Kreativität ihrer Musik, die politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen dieser damals sogenannten „New Men“ sind auf alle Zeiten konserviert auf NEVERMIND, TEN und BADMOTORFINGER. In Texten über toxische Männlichkeit, hemmungslosen Kapitalismus und Konsum, über Depressionen, Sucht, Entfremdung, sexuellen Missbrauch, Gewalt gegen Frauen und Kinder. Klingt aktuell, oder?

Mit großem Grunge- & Musikdoku-Special, Damon Albarn & IDLES: Der neue Musikexpress ist da!

Dieser Text erschien ursprünglich in unserem großen Special „30 Jahre Grunge“ in der Musikexpress-Ausgabe 11/2021.

Gie Knaeps Getty Images