Frances Marion: Kriegskorrespondentin, Drehbuchautorin, Frauenrechtlerin
Sie schrieb mehr als 300 Drehbücher, dokumentierte die Arbeit von Frauen im ersten Weltkrieg und setzte ihr Leben lang auf weibliche Solidarität. Frances Marion ist eine der erfolgreichsten Drehbuchautorinnen Hollywoods – und kaum einer kennt sie. Das soll sich jetzt ändern.
Seit 105 Jahren besitzen Frauen in Deutschland das Wahlrecht, seit 42 Jahren ist es ihnen erlaubt, ein eigenes Konto zu eröffnen, seit 26 Jahren ist Vergewaltigung in der Ehe verboten und vor vier Jahren wurde der Grundsatz „Nein heißt Nein“ gegen sexuelle Belästigung im Strafgesetzbuch aufgenommen. Fortschritt? Jein. Was progressiv klingt, ist tatsächlich ein wahrlich kleiner Nenner eines jahrhundertelangen Kampfes. Am 08. März jährt sich der Internationale Weltfrauentag, oder besser gesagt Feministischer Kampftag – und noch immer müssen sich Frauen weltweit für ihre Gleichberechtigung und Anerkennung einsetzen. Gender Pay Gap, weibliche Altersarmut sowie sexuelle Belästigung und Missbrauch gehören für die meisten Frauen nach wie vor zum Alltag. Und das im Jahr 2023!
Anstatt sich jedoch der Wut und Frustration hinzugeben, möchte die Autorin dieses Textes den Monat im Zeichen der Frau und die Zeit danach stattdessen dafür nutzen, auf all die Pionierinnen aufmerksam zu machen, die die Welt verändert haben – und in Geschichtsbüchern dennoch häufig nicht vorkommen. Willkommen zur ME-Rubrik „FLINTA*, die mit ihrer Kunst die Welt verändert haben“. Ihr habt noch nie etwas von FLINTA* gehört? No worries: Der Begriff ist relativ neu und bezeichnet alle weiblich gelesenen Personen, die im Patriarchat diskriminiert werden – somit werden darunter nicht nur heterosexuelle cis-Frauen, sondern auch homo- oder bisexuelle, intersexuelle und nicht-binäre Frauen, sowie Trans- und agender-Personen miteingeschlossen.
Im Portrait: Frances Marion – Kriegskorrespondentin, Drehbuchautorin, Frauenrechtlerin
Sie trug den Namen eines bekannten Kriegshelden im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und steht dennoch nicht in seinem Schatten: Während der Oberstleutnant Francis Marion Mitte des 18. Jahrhunderts neue Guerillataktiken erfand und damit die Kriegsführung maßgeblich veränderte, revolutionierte seine Namensträgerin Frances Marion knapp 170 Jahre später Hollywood und kämpfte für stärkere Frauenrechte. Sie war eine der ersten weiblichen Kriegskorrespondentinnen im Ersten Weltkrieg und die erfolgreichste weibliche Drehbuchautorin der 1920er- und 1930er-Jahre. Im Laufe ihrer Karriere verfasste sie Skripte für mehr als 130 Filme, schrieb insgesamt mehr als 300 Drehbücher und gewann zwei Oscars für ihre schriftstellerischen Leistungen. Sie wurde von einer der erfolgreichsten Regisseurinnen aller Zeiten unter die Fittiche genommen und setzte seither ihr Leben lang auf weibliche Solidarität. Und trotz ihrer unglaublichen beruflichen Leistungen existieren unerhört wenig Informationen über sie. Das hier ist ihre Geschichte – soweit man sie zurückverfolgen kann.
Nach dem großen Erdbeben von San Francisco brennt ihre Schule ab
Frances Marion wird unter dem Namen Marion Benson Owens am 18. November 1888 in San Francisco als Tochter von Len D. Owens und Minnie Benson geboren. Gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder Len und ihrer älteren Schwester Maude erlebt sie eine relativ behütete Kindheit. Als sie zehn Jahre alt ist, beschließen ihre Eltern, sich scheiden zu lassen. Sie bleibt bei ihrer Mutter und wird mit zwölf Jahren der Schule verwiesen, nachdem sie dabei erwischt wird, wie sie ihren Lehrer als Cartoon-Figur nachzeichnet.
Anstatt jedoch direkt ins Berufsleben einzusteigen, wechselt das junge Mädchen erst auf eine Schule in San Mateo und mit 16 Jahren ein weiteres Mal – diesmal auf das „Mark Hopkins Art Institute“ in San Francisco. Doch auch diesmal ist das Glück nicht auf ihrer Seite: Im Jahr 1906 brennt die Kunstschule ab, nachdem das große Erdbeben von San Francisco die Westküste erschüttert. Bei dem Beben wird eine Stärke von 7,8 ermittelt, mehr als 3000 Menschen sterben. Es ist eine der schlimmsten Umweltkatastrophen in der Geschichte der USA.
Als Jugendliche beginnt Frances Marion bereits damit, sich der Fotografie zu widmen – so startet sie ihre Karriere als Assistentin des Fotografen Arnold Genthe und übt sich in Farbfotografie und Layout. Doch das reicht bald nicht mehr aus: Nach einiger Zeit steigt sie als Reporterin für den „San Francisco Examiner“ ein und arbeitet für die „Western Pacific Railroads“ als Werbegrafikerin. Dann beschließt sie, nach Los Angeles zu ziehen. Ein wichtiger Schritt.
Nachdem sie sich erst für eine kurze Zeit als Plakatkünstlerin und Werbelayouterin durchschlägt, wird ihr im Sommer 1914 ein Job angeboten, der ihre ganze Karriere verändern sollte: Sie erhält eine Anfrage von Lois Weber Productions als Schreibassistentin und Schauspielerin. Es ist die Produktionsfirma von Lois Weber, der erfolgreichsten weiblichen Regisseurin ihrer Zeit. Ihr Film „Der Kaufmann von Venedig“ (1914) ist das erste Langspielwerk aller Zeiten, bei dem eine Frau Regie geführt hat. Webers Talent, kommerzielle filmische Mittel mit sozialpolitischen Themen zu verknüpfen, sagt Marion sofort zu. Sie nimmt den Job an.
Sie soll das Drehbuchschreiben von Lois Weber höchstpersönlich gelernt haben
Zwischen Lois Weber und Frances Marion entwickelt sich in den darauffolgenden Jahren erst eine enge Zusammenarbeit, dann eine Freundschaft. Gerüchten zufolge soll sie das Drehbuchschreiben von der legendären Regisseurin höchstpersönlich gelernt haben. Doch im Jahr 1916 folgt dann der Bruch: Lois Weber wird von Universal angefragt und sie bittet Frances Marion, mit ihr zu kommen. Doch die Drehbuchautorin schlägt das Angebot aus – und nimmt stattdessen einen Job bei der Filmfirma „Famous Players-Lasky“ an. Diese Stelle wurde ihr von einer weiteren engen Freundin – dem Stummfilmstar Mary Pickford – ans Herz gelegt. Aus Lois und Frances wird bald Mary und Frances. Die Autorin und die Stummfilmschauspielerin arbeiten fast ausschließlich nur noch zusammen – in dem Film „A Girl of Yesterday“ (1915) spielen sie gemeinsam die Hauptrollen, mit „The Foundling“ schreibt Marion ihrer Freundin die Hauptolle extra auf den Leib.
Frances Marion verkauft „The Foundling“ (1915) – ein Drama über ein armes Waisenmädchen, das für ihren Vater unerkannt als Dienstmädchen arbeitet – für 125 US-Dollar an den legendären Filmproduzenten Adolph Zukor und reist nach New York zur Premiere des Films. Doch kurz nach der Erstaufführung verbrennen die Filmrollen in einem Laborbrand. Das Werk ist zerstört. Frustriert bewirbt sich Marion bei „World Films“ und wird für ein zweiwöchiges unbezahltes Probearbeiten eingestellt. Während ihrer Probearbeitszeit beschließt sie, einen alten kitschigen Film mit Alice Brady – der Tochter des „World Films“-Chefs William Brady – in der Hauptrolle neu zusammenzuschneiden, um ein neues Werk daraus zu generieren. Mit Erfolg: Mithilfe ihrer innovativen Herangehensweise verwandelt sich das überzogene Melodrama in eine erfrischende Komödie – und der neue Film wird für unglaubliche 9.000 US-Dollar verkauft. Es ist ihr Durchbruch.
1917 arbeitet sie als offizielle Drehbuchautorin für Mary Pickford – für 50.000 US-Dollar im Jahr
Mit einem neuen Vertrag in der Tasche, bei dem sie mehr als 200 US-Dollar pro Woche verdient, steigt Marion schnell zur Leiterin der Schreibabteilung bei „World Films“ auf und verfasst in den darauffolgenden zwei Jahren mehr als 50 Drehbücher. Ihr Talent spricht sich schnell in der Branche herum – und im Jahr 1917 kehrt sie wieder zu ihrem alten Arbeitgeber „Famous Players-Lasky“ zurück, um dort für 50.000 US-Dollar im Jahr als offizielle Drehbuchautorin für Mary Pickford zu arbeiten. Sie gilt nun als eine der bestbezahltesten Drehbuchautorinnen der Branche. Doch während sich viele Menschen in ihrer Lage eventuell zurückgelehnt und den Ruhm und das Geld genossen hätten, nutzt Frances Marion ihr Talent und ihre Stimme, um Gutes zu tun.
So reist sie während des Ersten Weltkriegs mehrfach nach Europa, um dort als Kriegsberichterstatterin zu arbeiten. Ihren journalistischen Fokus legte sie dabei vor allem auf den Einsatz von Frauen, die hinter den Kulissen an der Front häufig schwerste Arbeit verrichten. Somit bricht Frances Marion mit ihrer mutigen Tätigkeit gleich zwei Rekorde – einmal als eine der ersten Frauen, die während des Krieges als Übersee-Berichterstatterinnen einsteht und als allererste Frau, die nach dem Waffenstillstand den Rhein überquert.
Als Frances Marion im Jahr 1919 aus Europa zurückkehrt, wartet bereits ein neues Jobangebot auf sie: Der erfolgreiche Medien-Mogul, Verleger und Journalist William Randolph Hearst bietet ihr unglaubliche 2.000 US-Dollar pro Woche an, um als Autorin bei seiner Produktionsfirma „Cosmopolitan Productions“ einzusteigen. Gemeinsam mit einer weiteren legendären Drehbuchautorin ihrer Zeit – Anita Loos – mietet sich Marion daraufhin in ein Haus auf Long Island ein, um in Ruhe arbeiten zu können. In demselben Jahr heiratet sie die Liebe ihres Lebens: den Geistlichen und späteren Schauspielstar Fred Thomson. Sie war vorher bereits zweimal verheiratet gewesen, doch diese Ehe ist anders, tiefgreifender. Die Flitterwochen verbringt das Paar gemeinsam mit Marions bester Freundin Mary Pickford und derem frischgetrauten Ehemann Douglas Fairbanks.
„Just Around The Corner“ nach Fannie Hursts Kurzgeschichte wird ihr Regiedebüt
Während ihrer Zeit bei „Cosmopolitan Productions“ lernt die Autorin eine weitere Frau kennen, die ihr Leben verändern sollte: Fannie Hurst. Die Schriftstellerin und Aktivistin, die mit ihren revolutionären Kurzgeschichten während des Ersten Weltkriegs landesweite Bekanntheit erhalten hatte, fasziniert Frances Marion ungemein. Die beiden freunden sich an, teilen sie doch ähnliche politische Anliegen wie Feminismus und soziale Gerechtigkeit. Anfang der 1920er-Jahre adaptiert sie Fannie Hursts Kurzgeschichte „Humoresque“ als Drehbuch, im Jahr 1921 folgt das Skript für Hursts Novelle „Superman“. Der daraus entstehende Film „Just Around The Corner“ wird ein Meilenstein für Frances Marion: Es ist ihr Regiedebüt. Mit der Premiere ihres ersten Regiewerks ist Frances Marion auf der Überholspur in Hollywood. „Just Around The Corner“ (1921) wird zu einem Studio-Hit, daraufhin führt sie noch bei einem weiteren Film Regie: „The Love Light“ (1921) mit – natürlich – Mary Pickford.
Mitte der 1920er-Jahre ist Frances Marion auf dem Höhepunkt ihrer Karriere angekommen. Obwohl sie im Jahr 1926 zum ersten Mal Mutter geworden ist, arbeitet sie weiterhin bei dem Filmstudio „MGM“ und verdient 3.000 US-Dollar pro Woche – das sind heute umgerechnet mehr als 40.000 (!) US-Dollar. Mit der Zeit betrachten die Menschen den Erfolg des Studios einzig als Verdienst von Frances Marions Schreibtalent. Mittlerweile hat sie mehr als 100 Drehbücher geschrieben, darunter auch Skripte für Filmhits wie den allerersten Farbfilm aller Zeiten „The Toll Of The Sea“ (1922) mit Anna May Wong und Kenneth Harlan, „Love“ mit John Gilbert und Greta Garbo (1927) oder „The Scarlett Letter“ (1926).
Doch auf ihr Karrierehoch folgt ein persönliches Tief: Am ersten Weihnachtstag im Jahr 1928 verstirbt ihr Ehemann Fred Thomson überraschend an Tetanus – er war in einen Nagel getreten und hatte die Wunde nicht ausreichend versorgt. Frances Marion bleibt mit den beiden gemeinsamen Söhnen Frederick und Richard zurück. Zwar heiratet sie nur zwei Jahre später neu, doch die Ehe mit dem Regisseur George W. Hill sollte nicht länger als drei Jahre halten.
Für zwei Filme wird sie jeweils mit einem Oscar ausgezeichnet
Im Jahr 1931 erlebt Frances Marion einen weiteren beruflichen Meilenstein: Für ihre Schreibkünste bei dem Film „The Big House“ (1930) wird sie mit einem Oscar ausgezeichnet. Im darauffolgenden Jahr gewinnt sie den Academy Award ein weiteres Mal – diesmal für das Werk „The Champ“ (1931). Mit zwei Oscars in der Tasche strebt die Autorin immer mehr nach künstlerischer Autonomie: So unterstützt sie die Karriere der Schauspielerin Marie Dressler, die in Branchenkreisen aufgrund ihres höheren Alters bereits als abgeschrieben gilt. Zudem stellt sie sich immer stärker gegen die Studios, die ihre Filme zensieren lassen wollen.
Im Jahr 1946 hat Marion von dem Druck Hollywoods und den Veränderungen, die damit einhergehen, genug. Reich und unabhängig zieht sie sich aus dem Filmgeschäft zurück, um in Ruhe an eigenen Büchern und Drehbüchern arbeiten zu können. Über die Zeit nach ihrem Rückzug ist so gut wie nichts bekannt – erst im Jahr 1972 kehrt sie für eine kurze Zeit in die Öffentlichkeit zurück, als sie ihre Memoiren „Off With Their Heads: A Serio-Comic Tale of Hollywood“ veröffentlicht. Ein Jahr später stirbt Frances Marion im Alter von 75 Jahren.
Sie setzte ihr Leben lang auf weibliche Solidarität
Frances Marion verstand schon früh, dass Talent alleine nicht reicht, um sich einen Namen zu machen. Sie setzte ihr Leben lang auf weibliche Solidarität, half anderen Künstlerinnen und Autorinnen dabei, Karriere zu machen und schuf gemeinsame Vorteile durch Kooperationen und Zusammenarbeit. Bereits im Jahr 1915 nahm sie an einer Demo für die Einführung des Frauenwahlrechts teil – und auch als Auslandskorrespondentin im Ersten Weltkrieg legte sie den Fokus gänzlich auf die weiblichen Arbeiterinnen an der Front. Dass sie so erfolgreich wurde, wie sie war, mag aus heutiger Sicht erstaunlich wirken. Schließlich ist das Filmgeschäft nach wie vor männlich geprägt – im Jahr 2014 stammten bloß elf Prozent der 250 erfolgreichsten Filme aus der Feder von weiblichen Autorinnen.
Das war in der Stummfilm-Ära noch ganz anders; tatsächlich sollen mehr als die Hälfte (!) aller Stummfilme von Drehbuchautorinnen verfasst worden sein. Der Grund hierfür ist simpel: Dadurch, dass es in der Zeit vor den großen Studios noch nicht einmal richtige Drehbücher gab – zumeist dienten informelle Skripte als eine Art Fahrplan für alle Beteiligten am Set – war die gendertypische Rollenverteilung bei den Dreharbeiten noch nicht so stark festgelegt. So konnten sich auch Frauen in unterschiedlichen Bereichen ausprobieren, sei es Regie, Produktion oder Schnitt. Und wie gut, dass es so war – sonst hätte es einige der bahnbrechendsten Frauen der Filmindustrie wie Frances Marion, Anita Loos, Lois Weber und June Mathis wohl nie gegeben.
Dieser Text erschien zum ersten Mal im April 2021 auf musikexpress.de und wurde nun aktualisiert.