Gastkritiker Bodo Staiger Rheingold


In einem Monat, dem es an großen musikalischen Höhepunkten fehlte, machten wieder einmal unerwartet die Außenseiter das Rennen: R.E.M., ein 60er-Jahre-orientiertes Quartett aus Georgia, das mit RECKONING Gitarren-Rock in der Byrds-Tradition reaktiviert.

Ebenso unerwartet auf Platz zwei: das Vokal-Album der Nylons, die wie die Flying Pickets die A-Capella-Tradition der 50er Jahre fortführen.

Mit Platz drei beginnt dann die musikalische Neuzeit: Das Elektronik-Duo Blancmange, das sich inzwischen aus dem Meer gesichtsloser Elektro-Popper freigeschwommen hat, konnte den Kölner Collage-Künstler Czukay gerade noch auf Platz vier verweisen, gefolgt vom zweiten Album der britischen Songschreiberin Annabel Lamb (LP-Kritik bereits im letzten Heft!) The Cure, gerade auf Tournee in Deutschland, legten ihrem düsteren Image zum Trotz ein überraschend positives Album vor – während Any Trouble wieder genau das machten, was man von ihnen erwartete: traditionellen Rock aus England.

Das Mittelfeld beginnt mit Eddy Grant und seinem Reggae-Rock, gefolgt von dem neuen Trio The Group mit einem ungestümen Rockalbum.

Die Durchschnittswerte der letztgenannten Platten sind punktgleich mit OCEAN RAIN von Echo & The Bunnymen, die durch niedrigere Einzelwertungen auf den zehnten Platz verwiesen wurden – vor bekannten Kämpen der Westcoast-Legende Jeferson Starship und Billy Brenner, dem ehemaligen Dave Edmunds Compagnon. Nach A WALK ACROSS THE ROOFTOP des Glasgower Trios Blue Nile gab’s nochmals zwei gleichstark bewertete Platten, wobei Camels Melody Rock auf STATIONARY TRAVELLER Falcos Disco-beschwingte JUNGE RÖMER um eine Fünf überrundete; eine Note, die die drei Schlußlichter Roketz, Industry und Todd Rundgrens Utopia schon nicht mehr zu erzielen vermochten.

„Die MÜV-Platten waren ja ganz nett, aber da waren zu viele britische und amerikanische Produktionen im Spiel. Beim nächsten Mal möchte ich mal mehr zu den Platten der deutschen Kollegen sagen“, erklärte unser Gastkritiker, nachdem er die MÜV-Vorschläge zwischen Video-Aufnahmen in Wien und Vorbereitungen für den anstehenden Urlaub hörte und wie folgt kommentierte:

Utopia: „Todd Rundgren hat auch schon bessere Tage erlebt -American Bombastic-Rock, das ist nur eine Eins.“

Echo & The Bunnymen: „Teilweise sehr interessante Instrumentierung, aber unverständliche Texte, im Großen und Ganzen langweilig – zwei Punkte.“

Rocketz: Saubere Italy-Disco Marke La Bionda; guter Elektronik-Sound – eine Drei.“

Eddy Grant: „Für meine Ohren wesentlicher rockiger als sonst. Die erste Seite des Albums ist durchgehend gut eine Fünf.“

The Group: „Guter Gitarren-Sound zu Klischee-Texten – langweilig! Eine Zwei – also lau.“

Blue Nile: „Melodramatische Langeweile die nächste bitte! Eine Eins!“

Falco: „Oh, das war mein Problem, aber das ist wahrscheinlich auch sein Problem. Wirrer Text zu amerikanischer Disco-Musik; fällt bei mir glatt durch – eine Eins.“

Industry: „Nette, harmlose Songs mit schönen Gitarren, eine Zwei.“

Camel: „Traditioneller englischer Soft-Rock, solides Handwerk – eine Drei. „

The Cure: „Ganz witzige Texte und Musik-Collagen, aber spätestens nach der dritten Nummer geht mir die Stimme auf die Nerven eine Zwei.“

Billy Bremner: „Endlich mal ein Lichtblick: gute Songs, schöne Rock-Gitarren in typisch-britischer 60er Manier; reicht durchaus an Dave Edmunds Qualitäten heran. Eine Fünf.“

The Nylons: „The Platters meet DMX: 50er Jahre Schmalz und 80er Jahre Technik; hervorragende Vokalsätze; die Cover-Version von, Walking In The Sand‘ ist toll. Auch ’ne Fünf.“

Blancmange: „Das sind meine absoluten Favoriten! Exzellente Songs, toller Gesang und sehr gute Musik – das beste Album von allen, die ich gehört habe! Das muß das Album des Monats sein – eine Sechs!“

Holger Czukay: „Das brauch ich mir eigentlich nicht anzuhören – aus dem Stegreif sage ich dazu: Mit einer der besten Platten von Holger, der eh schon seit Jahren sehr gute Produktionen macht eine Fünf.“

R.E.M.: „Der Trend zurück zu den 60ern ist unverkennbar – viele Anleihen bei den Byrds, insbesondere durch den 12saitigen Sound. Eine Fünf.“

Schlüsselerlebnis: Die 60er Jahre

Bestes Konzert: Bruce Springsteen in Amsterdam

Vorlieben: Radfahren

Abneigungen:

Die ständige akustische Umwelt-Verschmutzung

Sex-Symbol: Divine

Musiker/Bands: Stevie Winwood, La Düsseldorf, die alten OMD, Kraftwerk und immer noch: B.B. King

Maler: A. Paul Weber

Schriftsteller: Hermann Hesse

Buch: „Glasperlenspiel“

Film: „Tanz der Vampire“ und „The Rutles“

Regisseur: Steven Spielberg und Roman Polanski

Frühere Berufe: Goldschmied, Musiklehrer

Hobbies: Schach

Erstes Erlebnis mit Musik: Jefferson Airplane-Konzert, 1967

Liebster Urlaubs-Ort: Formentera

Zeitgenossen, die du gerne treffen würdest: Der Wichtigste wäre im Moment der Referent für Popmusik im Kultus-Ministerium

Musiker, mit denen du gerne spielen würdest: Stevie Winwood, Maurice Ravel (oder seinem Geist) und Michael Rother

Pläne für die nähere Zukunft: Urlaub

Wichtigste Einflüsse: Chuck Berry, Rolling Stones, Velvet Underground und deutsche Elektronik

Wo wurdest du gerne leben: Entscheidend ist nicht das Wo sondern das Wie

Sammel-Obiekte:Gitarren

Bei welchem Ereignis wärest du gerne dabei gewesen: Bei der Wende

Welche Kunstfertigkeit würdest du gerne beherrschen: Mit einer Film-Kamera umgehen können

Worüber kannst du lachen: Letztendlich über mich, aber auch über die Birne-Witze in der „Titanic“