Generation Ni-Ni
Die spanische Popszene protestiert mit den Kids von Madrid. Mit Mixtapes und Solidarität. Doch selbst Manu Chao verzichtet auf die Rolle des Widerstands-Gurus.
Me voy a inventar un plan para escapar hacia adelante.“ (Ich werde mir einen Plan ausdenken, um nach vorne zu entkommen.) Diese Zeile aus dem Song „Adelante Bonaparte“ der spanischen Indie-Größe Standstill spiegelt in etwa die Stimmung der zehntausenden von Demonstranten in den vergangenen Wochen und Monaten in Spanien wider.
Nicht mehr Sonne, Party und Ibiza beherrschen das Leben der jungen Spanier in diesem Jahr, sondern Frust, Wut und Trauer über eine fehlgeschlagene, teilweise inexistente Arbeitspolitik des Landes, welche immer mehr junge Menschen zurück ins Elternhaus oder eben auf die Straße treibt.
The Spanish Revolution oder ganz simpel Movimiento 15-M (Bewegung 15. Mai) nennt man seit diesem Mai die zahllosen Proteste und Camps frustrierter und enttäuschter Menschen in Spanien angesichts der hohen (Jugend-)Arbeitslosenquote von rund 40 Prozent. Ein harscher Protest gegen die Tatenlosigkeit der sozialistischen Regierung sowie eine Abstrafung der zahlreichen und großen Korruptionsfälle, die gerade im Lager der größten Oppositionspartei PP in den vergangenen Jahren aufgedeckt wurden.
In Spanien spricht man inzwischen auch von der Generation Ni-Ni (Generation Weder-Noch), jener Generation von Schulabgängern, die, auch bedingt durch den wahnwitzigen Bauboom der vorigen Jahrzehnte und den (damals) sehr gut bezahlten Jobs, weder studierten noch heute wegen fehlender Ausbildung arbeiten. Zudem leiden gerade die jungen Spanier seit Jahrzehnten an einem sehr liberalen Arbeitsgesetz, welches den Unternehmern erlaubt, diese Arbeitnehmergruppe entweder nur mit sechsmonatigen Verträgen auszustatten oder über sogenannte Praktika anzustellen.
Ausgangspunkt dieses in der jüngsten Geschichte Spaniens einmaligen Volksprotestes war der zentrale und symbolträchtigste Platz der spanischen Hauptstadt Madrid: die Plaza del Sol. Von hier aus begann sich die Bewegung auf das ganze Land auszubreiten. Aber auch im europäischen Ausland betrachtete man mit großer Sympathie diesen Aufstand der „indignados“ (Empörten), wie sie sich in Anlehnung an das Buch „Empört Euch!“ des französischen Schriftstellers Stéphane Hessel bezeichnen. So gab es auch in Berlin, Köln und anderen Städten immer wieder Solidaritätsbekundungen Gleichgesinnter.
Rund 25000 Menschen folgten spontan den Aufrufen per SMS oder in den sozialen Netzwerken, um eine Woche vor den Kommunalwahlen auf der Plaza del Sol zu demonstrieren und ein Zeltlager aufzubauen. Diese spontanen Demonstrationen weiteten sich auf das ganze Land aus und fanden Unterstützung in anderen großen Städten Spaniens wie Barcelona, Valencia oder Sevilla.
Hunderttausende in ganz Spanien gingen an diesem und den nachfolgenden Tagen auf die Straße bzw. auf die Plätze, um energisch, aber friedlich gegen eine für sie seit Jahrzehnten unhaltbare Situation zu demonstrieren. Um den Ordnungsbehörden jegliche Angriffsfläche für ein Auflösen oder Verbot der Demonstrationen zu nehmen, hatten sich alle Beteiligten sogar einem freiwilligen Alkoholverbot unterzogen.
Begleitet wurden die Demos und Zeltlager auf der Plaza del Sol auch durch die Unterstützung zahlreicher Künstler aus der sehr aktiven Indieszene. Populäre Bands wie Vetusta Morla, La Habitación Roja oder Standstill haben sich von Beginn an aktiv über Twitter und andere soziale Netzwerke an den zahlreichen Aufrufen beteiligt.
Aber auch arriviertere Chartsstürmer wie Amaral oder Enrique Bunbury (Ex-Frontmann der legendären Heroes del Silencio) haben sich demonstrativ hinter den Aufstand der Empörten gestellt. Alle beteiligten oder tauschten sich über den Twitter-Account „spanishrevolution“ aus und riefen zu friedlichen Protesten in allen spanischen Großstädten auf. Seit den politisch motivierten Liedermachern der Künstlergruppe „Els Setze Jutges“ (Die sechzehn Richter), deren Wurzeln noch im Widerstand gegen das Franco-Regime liegen, hat es nicht mehr eine derartige Aufbruchstimmung in der jüngeren Musikkultur gegeben.
Sehr kreativ und solidarisch zeigte sich die hierzulande weniger bekannte spanische HipHop-Szene. Innerhalb weniger Tage produzierten sie ein Mixtape zum kostenlosen Download, das sie dann auf die Webseite versosperfectos.com stellten. Auch der Star der internationalen Worldmusic-Szenerie, der franco-spanische Sänger Manu Chao, äußerte sich voller Enthusiasmus über die neue Bewegung. Der Sohn spanischer Emigranten gab gleichzeitig bekannt, auf die Rolle des berühmten Protest-Gurus verzichten zu wollen. Schließlich, so Manu Chao, würde es um eine Bewegung von unten gehen, die sich ganz bewusst ohne große Namen, bewährte Songs und Rhythmen zusammengefunden hätte.
Vor den vorgezogenen Parlamentswahlen am 20. November will man nochmals die Straßen und Plätze erobern. Die Politiker in Spanien werden sich überlegen müssen, wie sie auf diese massive Protestbewegung reagieren. Noch lautet das Motto: Wählt sie nicht! Ohne deine Stimme sind sie nichts!