Gentle Giant


Es ist noch gar nicht so lange her, da flimmerten sie über die bundesdeutschen Mattscheiben! Richtig, das war mitten in diesem letzten Wahnsinnssommer, als Millionen zwischen Hamburg und München über das beschissene Fernsehprogramm mekkerten. Was bis dahin noch keiner Rock-Formation gelungen war, die Jungs von Gentle Giant schafften es. Sie durften sich eine Stunde lang im ZDF-Sonntagskonzert präsentieren. Ausgerechnet in der Sendung, in der gewöhnlich die Rothenberger oder der Karajan in die Kameras blinzeln. Ja ist denn das die Possibility?!?

Vielleicht wollten die Mainzelmännchen dem Otto Normalverbraucher und seiner Familie ja tatsächlich mal den Sonntagsbraten versauern. Von wegen Ausgeglichenheit des Programms und so. Denn Gentle Giant, das war endlich mal eine Rockgruppe mit richtigen Musikern. Die hatten zwar auch lange Haare, aber von denen spielte jeder ein halbes Dutzend Instrumente. Mindestens. Dagegen sind die Rolling Stones oder die Who ja glatt die reinsten Stümper!

Ganz schön aggressiv, diese einleitenden Worte, nicht wahr? Doch was sein muß, muß sein. Gentle Giant ist nun mal eine Herausforderung. Entweder man mag sie sehr, die gekonnt konfusen Kompositionen dieser Band, oder man hält sich die Ohren zu.

Als die Gruppe vor immerhin bereits gut fünf Jahren von den drei Shulman-Brüdern Derek, Ray und Phil sowie dem Tasten-Experten Kerry Minnear und dem Gitarristen Gary Green gegründet wurde, war noch nicht abzusehen, ob ihr aus Klassik, Jazz und Rock zusammengemixtes Musikkonzept jemals über die Grenzen der Britischen Inseln hinaus bekannt werden würde. Ähnlich wie die recht unüberschaubaren Kompositionen von Genesis brauchten auch die Gentle Giant-Klänge mehrere Jahre, bevor sie wenigstens vom „progressiveren“ Teil des Rockpublikums in Europa und in den USA akzeptiert wurden. Erst jetzt, Ende 1975, zeichnet sich für die britischen Klassik-Rocker in unserem Lande ein Durchbruch großen Stils ab. Die im November abgeschlossene, gut ausgebuchte Deutschlandtournee brachte Gentle Giant erstmals als Headliner in unsere großen Hallen. In den vorangegangenen Jahren beschränkten sich die Tour-Aktivitäten der Gruppe bei uns auf mittelgroße Säle und auf die Teilnahme im Vorprogramm einer Jethro Tull-Tournee. Tatsächlich hat Gentle Giant mit dem vor wenigen Wochen erschienenen siebten Album „Free Hand“ größere Chancen als irgendeine andere „intellektuelle“ Rockband, um im neuen Jahr als die Sensation gefeiert zu werden.

Grund genug also, die musikalischen Lebenswege der Shulman-Brothers und ihrer Mit-Giganten ein wenig in die Vergangenheit hinein zu verfolgen.

Ray, Derek und Phil Shulman hatten das Glück, als Söhne eines Berufsmusikers geboren zu werden, der sich schon früh um die musikalische Erziehung seiner Sprößlinge kümmerte. Die Drei kannten ihre Lieblingsinstrumente bereits, als sie den Kinderschuhen noch lange nicht entwachsen waren. Derek entschied sich für die Gitarre, Phil für’s Saxophon, während Ray die Violine bevorzugte, auf der er schon bald so viel Talent bewies, daß er ins English National Youth Orchestra eintreten durfte. Inzwischen beherrscht Ray außer der Violine noch Gitarre, Baß und Schlagzeug. Derek ist der Leadsänger bei Gentle Giant. Was noch lange nicht heißt, daß er nicht auch hin und wieder am Baß zupft oder ins Saxophon bläst.

In der Mitte der sechziger Jahre schlössen sich Derek und Ray Shulman einer mittelmäßigen Band mit dem Namen „Simon Dupree and the Big Sound“ an. Nach ein paar nicht gerade überdurchschnittlichen Hits in England löste sich die Gruppe jedoch 1969 auf. Für Derek und Ray kam ein Tiefpunkt in ihrer Musikerkarriere, der auch nicht enden wollte, als sich der Saxophonist Phil mit seinen beiden Brüdern zusammenschloß. Erst Kerry Minnear, ein Tasten-Genie von der Royal Academy of Music, brachte den Shulmans neuen Auftrieb. Minnear hatte unter dem berühmten englischen Komponisten Cornelius Cardew studiert und sein Diplom in Kompositionslehre erworben. Aus diesem Grund liefert er logischerweise heute noch den größten Teil der Arrangements für Gentle Giant, geschrieben zu den Lyrics von Ray Shulman. Außer dem Piano beherrscht Kerry Minnear Orgel, Moog, Mellotron, Vibraphon, Cello, Gitarre, Baß und Schlagzeug. Selbstverständlich singt er auch – wie alle GG-Musiker. Ein weiteres Gründungsmitglied ist der Gitarrist Gary Green Er kommt ursprünglich vom Jazz. Bei Konzerten gibt er seine Gitarre höchstens mal aus der Hand, um sie kurzfristig gegen den Baß einzutauschen.

Den entscheidenden Rock-Einfluß brachte 1973 der Ex-Graham Bond- und Ex-Grease Band-Drummer John Weathers. Der stieg in dem Jahr nämlich bei Gentle Giant ein, weil Phil Shulman vom aufreibenden Tourneeleben die Nase voll hatte und seinen Brüdern Lebwohl sagte. Inzwischen ist Phil gutverdienender Lehrer und Familienvater. Trotzdem – ausgerechnet das erste Album, an dem John Weathers mitwirkte, wurde zum bisherigen GG-Bestseller überhaupt. Es hieß „In A Glass House“ und war immerhin bereits die fünfte LP der Band. Aber wie gesagt, das nagelneue Album „Free Hand“, so viel läßt sich schon jetzt absehen, dürfte alle bisherigen Gentle Giant-Erfolge spielend übertreffen.

Gentle Giant Discographie:

Gentle Giant (1970), Acquiring The Taste (1971), Three Friends (1972), Octopus (1972), In A Glass House (1973), The Power And The Glory (1974), Free Hand (1975)