Jon Savage über Jugend


Nach Arbeiten zu Punk, schwulem Pop und anderen gewichtigen Themen hat der bekannte britische Pophistoriker und Autor sich ans große Ganze gewagt und über die "Erfindung der Jugend" nun einige interessante Dinge zu erzählen.

Dein Buch „Teenage“ beschreibt „Die Erfindung der Jugend“ zwischen 1875 bis 1945. Heißt das, dass es vorher keine Jugend gab? Nein. Ich hätte das Buch auch mit dem 18. Jahrhundert beginnen können, mit der Aufklärung, der französischen Revolution oder der industriellen Revolution. Mich interessierte aber der Zusammenhang zwischen Massengesellschaft und Jugend. Somit war für mich das 20. Jahrhundert als das Zeitalter der Massenmedien interessanter.

Trotzdem zitierst du zu Beginn kein Massenmedium, sondern einen Tagebucheintrag von Marie Bashkirtseff. Hierin wird sehr treffend skizziert, worum es geht, wenn man „Jugend ist“. Man ist definitiv kein Kind mehr, aber eben noch kein Erwachsener. Das ist die Situation von Marie Weihnachten 1875.

Eine solche Konsumverweigerung war um 1900 zum Beispiel die Wandervogelbewegung: junge Menschen, die den Einklang mit der Natur suchten bis hin zur Freikörperkultur und der „freien Liebe“. In den 60ern fielen die Hippies mit ähnlichem Programm auf. Worin aber unterscheiden sich die Gruppen?

Drogen. Bei den Hippies waren wesentlich mehr Drogen im Spiel. Außerdem war die Wandervogelbewegung sehr breit gefächert. Neben unpolitischen Menschen waren hier auch rechts- wie linksradikale Menschen anzutreffen. Die Hippies hatten dagegen noch einen Kater vom Zweiten Weltkrieg. Und das war in England nicht so viel anders als in Deutschland. Da sprach man auch nicht darüber, was während des Krieges eigentlich passierte. Also brachen die jungen Menschen Mitte der 60er das Schweigen.

Gegen Ende seines Lebens sah Hall die Zukunft der Welt in einer globalen Jugendbewegung.

Ich weiß nicht, ob eine globale Jugendbewegung so wünschenswert ist. Wir tun immer Wenn man ihr Tagebuch liest, könnte das aber auch ein Blogeintrag von heute sein. Sie ist gelangweilt, hasst ihre Mutter und möchte ein Star sein. Und die Dinge müssen genau jetzt geschehen. So was wird auch in der Sprache, in der solche Tagebücher geschrieben sind, deutlich. Der Wandel und die Zerrissenheit, sowohl körperlich als auch seelisch, machen sich dann auch kulturell fest. Zum Beispiel in Subkulturen.

Seit G. Stanley Hall 1904 mit seiner psychologischen Studie „Adolescence“ die Jugend zum Gegenstand seiner Forschung gemacht hat, wurde sie von allen Seiten attackiert, vom Staat, von Pädagogen, auch von den Massenmedien.

Der Begriff „Teenager“ ist ja im Ursprung ein Marketingbegriff, der den Jugendlichen immer schon als Konsumenten betrachtete. Als man die Kaufkraft der Jugendlichen erkannte, entstand vor allem in den USA der 30er-Jahre ein regelrechter Jugendmarkt. Wobei hier unterschiedliche Formen einer Jugcndkultur aufkamen. Da gab es wilde Partys und schnelle Autos ebenso wie als Reaktion auf eine Massengesellschaft die antimaterialistische Einstellung, die Zurückzur-Natur-Bewegung.

so, als ob Jugendbewegungen etwas Progressives, Gutes sind. Aber die Hitlerjugend war auch eine Jugendbewegung. Abgesehen davon, dass sie letzten Endes von Erwachsenen geleitet wurden, sahen die darin organisierten Jugendlichen als ihre direkten Vorgesetzen andere Jugendliche, die wenig älter waren.

Auch hier zitterst du im Buch ein deutsches Mädchen: Melita Maschmann, die ihre Mutter hasste, weil sie sie ständig bevormundete, und sich dann aus Protest der Nazi-Bewegung anschloss, die sie jetzt noch viel mehr bevormundete. Ist das nicht absurd?

Ich wollte auch hier genauer hingucken. Immer nur davon zu reden, dass während der Nazi-Zeit Menschen fehlgeleitet wurden, dass sie alle dumm waren, genügte mir nicht.

Kurz vor der Nazi-Diktatur galt Berlin aufgrund der währungsbedingten Zuwanderung von Europäern und Amerikanern, die hier billig leben konnten, als Schmelztiegel. Der Historiker Sebastian Haffner nannte die damalige Stimmung in Berlin „nicht nur fremdenfreundlich, sondern fremdenenthusiastisch“. Wie konnte es da zu solch einem extremen Wechsel hin zur Fremdenfeindlichkeit kommen?

Möglich, dass die Wirtschaftskrise Unsicherheiten schuf. Tatsächlich war Berlin aber nie Hitlers Stadt. Es war immer schon anders als das restliche Deutschland, so wie New York anders ist als die USA.

Beim Label Trikont hast du eine CD zum Buch zusammengestellt. Einige Musikbeispiele von damals sind sexistisch und drogenverherrlichend. Nachkommen der damaligen Jugend werfen heute der Popmusik wieder Sexismen und Drogenverherrlichung vor. Warum reagieren Erwachsene immer noch so, als hätte es das in ihrer Jugend nie gegeben? Weil Menschen nie aus der Geschichte lernen. Ein Freund, mit dem ich wirklich viele Drogen ausprobierte, ist heute ganz entsetzt über die Hosen, die sein Sohn trägt.

Und du?

Ich höre bevorzugt elektronische Musik, weil da weniger peinliche Texte vorkommen. Diese ganzen Lebensweisheiten, die keiner braucht. Ich bin Jahrgang 53, da habe ich genügend Lebensweisheiten gehört: die Stones, die Kinks, den ganzen Hippie-Kram. Dann Glamrock, David Bowie und schließlich Punk. Für mich war Schluss, als Kurt Cobatn sich erschossen hatte.

Warum?

Weil Rockmusik die Musik ist, durch die Menschen aus deiner eigenen Generation zu dir sprechen. Ich gehöre nicht mehr zur Zielgruppe der modernen Rockmusik. Mein Gott, ich konnte schon Radiohead nicht ertragen. Nicht, dass die keine gute Musik machen. Aber das Gejammer von Thom Yorke bringt mich um.

Viele unterstellen der heutigen Jugend Politikverdrossenheit, andere meinen, sie müsse viel rebellischer sein. Ist es die Aufgabe der Jugend, rebellisch zu sein?

Lustige Vorstellung, auf Kommando rebellisch sein. Aber ja, wenn man sich anschaut, unter welchen Umständen die jungen Menschen heute leben, wundert es einen, dass nicht mehr auf die Barrikaden gehen. Sie zahlen cm Vermögen für ihr Studium und kriegen danach keinen Job. Und wenn sie endlich einen haben, zahlt diese Drecks-Internet-Firma nicht. Eigentlich müssten sie viel rebellischer sein. Zumal sie nichts zu verlieren haben. Wann wäre Freiheit einfacher, als wenn man für sie auf nichts verzichten muss? Das war mit dem Punk in England genauso. Anfang der 70er brach die Wirtschaftskrise über uns ein. Als meine Generation dann dran war mit Geldverdienen und das Leben genießen, gab es plötzlich nichts. Keine Jobs, nichts. Also wurden wir Punks.