Reflektor

Kinder an die Macht: Was ein Sechsjähriger mit Björk gemeinsam hat


Jan Müller erklärt in seiner Kolumne, warum es nicht immer lustig ist, ein Wunderkind zu sein.

„Sechsjähriger macht Spinnerpop.“ Diese Nachricht verbunden mit einem Bandcamp-Link schickte mir vor einigen Tagen mein Freund Rasmus. Und wenn Rasmus mir einen Link schickt, dann klicke ich immer sofort drauf. Leo Lackritz heißt der Sechsjährige. Sein Album hat den Titel CRAZY ENOUGH und ist von der Musik bis zum Artwork großartig. Es besteht aus siebzehn sonderbaren Songs, die Leo aus Toronto im Alleingang eingesungen, programmiert und gespielt hat.

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Beim Hören kam in mir dann allerdings auch bald die klamme Frage auf, ob die Behauptung seines Vaters, dass Leo das wirklich alles ganz allein gemacht hat, wirklich der Wahrheit entspricht. Immerhin ist der Vater Ronnie Lackritz Musikproduzent, und es wäre ihm ein Leichtes gewesen, hier oder dort korrigierend einzugreifen. Aber: Ich glaube an das Gute. Und es ist sonnenklar: Wenn bei Leos Album ein Erwachsener mitgemischt hätte (im wahrsten Sinne des Wortes), wäre das Ergebnis bei Weitem nicht so großartig geworden. Hut ab, Leo!

Im Allgemeinen ist es ja nicht immer lustig, ein Wunderkind zu sein

Im Allgemeinen ist es ja nicht immer lustig, ein Wunderkind zu sein. Wie fand es wohl Mozart, das Wunderkind aller Wunderkinder, von seinem Vater so früh ans Klavier gesetzt worden zu sein und schon als Sechsjähriger Konzerte gespielt zu haben? Wir wissen es nicht. Auch heute noch sind Wunderkinder meist zurückhaltend, wenn es darum geht, den externalisierten elterlichen Ehrgeiz zu bewerten. Beim Reflektor-Gespräch mit dem tollen Pianisten Igor Levit stieß ich auf ausweichende Antworten, als ich ihn fragte, wie es war, im Alter von drei Jahren mit dem Klavierspiel zu beginnen und als Sechsjähriger erste Konzerte zu spielen.

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Zweifellos gibt es zumindest im Popbereich zahlreiche Wunderkinder, die aufgrund der frühen Karriere seelischen Schaden nahmen. Man denke nur an Michael Jackson oder Britney Spears. Anderen ist es gelungen, in ein unauffälliges Erwachsenenleben hinüberzugleiten. Hein Simons a.k.a. Heintje zum Beispiel („Mama“). Er betreibt heute einen Reiterhof in Belgien.

Es ist besser, den Kitsch von Heintje zu hören als den Kitsch so einiger Politrock-Combos

Übrigens: Wusstet ihr eigentlich, dass Hans Jürgen Krahl, APO-Aktivist und Chefideologe des Frankfurter SDS, ein glühender Heintje-Verehrer war? Das hat ihm Spott eingebracht. Doch ich finde: Es ist besser, den Kitsch von Heintje zu hören als den Kitsch so einiger Politrock-Combos. War Heintje ein Wunderkind? Vermutlich ist die Bezeichnung Kinderstar für ihn treffender. Und es war vermutlich nicht der achtjährige Heintje selbst, der damals auf die Idee kam, eine Karriere als Kinderstar zu starten.

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Bei manchen Kinderstars ist aber durchaus auch ein eigenständiger Drang zur Bühne erkennbar. Zum Beispiel besitze ich alle Alben der großartigen Berliner Band The Teens. Und ich war echt beeindruckt, als Bill Kaulitz mir im Reflektor-Gespräch glaubhaft darlegte, dass ihm bereits als 11-Jährigem klar war, für ein Leben als Popstar geboren zu sein. Dass dann sowohl bei den Teens als auch bei Tokio Hotel Erwachsene nicht allzu knapp mitgemischt haben, ist offensichtlich. Auch die Isländerin Björk nahm schon mit zwölf ihr erstes eigenes Album auf. Sie war allerdings schon seit jeher musikalisch alles andere als fremdbestimmt.

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Mir selbst hingegen wurde erst als Erwachsener klar, dass ich als Punk-Musik hörendes Kind mir oft Musik von Kindern angehört hatte: Andreas Löhr, Sänger und Gitarrist von ChaosZ gründete seine düstere Band mit 14. Auch Sara Schär, ihres Zeichens Sängerin der legendären Schweizer Band TNT, deren „Züri brännt“ bis heute unvergessen ist, war damals erst 14. Und Deutscher W von einer Band namens Oberste Heeresleitung (OHL), eher ein Redner als Sänger, der mit wirren aber durchaus schmissigen Pamphlet-Texten auf sich aufmerksam machte („Leben in Deutschland, wie Scheiße an der Wand“) war damals ein 16-jähriger Knabe.

Wirklich unfassbar

Aber auch wenn man den Altershorizont ein wenig nach oben öffnet, so kommt man nicht aus dem Staunen heraus. Wie schaffte es Peter Hein mit den Fehlfarben im Alter von 22 Jahren so unsterbliche Hits mit altersweisen Texten wie „Grauschleier“ und „Paul ist tot“ zu  erfassen? Auch Ian Curtis war erst Anfang 20, als er die Überhymne „Love Will Tear Us Apart“ einsang.

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Diese Liste lässt sich beliebig fortsetzen: Georg Büchner schuf „Dantons Tod“ mit 21, Mary Shelley schrieb „Frankenstein“ mit 20 und Françoise Sagan verfasste „Bonjour Tristesse“ mit 17. Ich hätte jetzt mit meinen 52 Jahren die Möglichkeit, deswegen unendlich neidisch und deprimiert zu sein, oder aber ich freue mich einfach darüber, wie früh Menschen schon so unfassbar viel vom Leben verstehen. Und jetzt höre ich noch mal „Age Of Dinosaurs“ von Leo Lackritz. Wirklich unfassbar!

Zu Jan Müllers „Reflektor“-Podcast: www.steadyhq.com/de/reflektor

Jan Müller von Tocotronic trifft für seinen „Reflektor“-Podcast interessante Musiker*innen. Im Musikexpress und auf Musikexpress.de berichtet er von diesen Begegnungen. Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 11/2023.