Kiss – Die Monster Treten Ab
Die Masken sind ab, das Geheimnis gelüftet, die Monster-von Gene Simmons als lebende Comics erdacht-entpuppen sich als gewöhnliche Menschen. „Sollten wir einmal unsere Masken lüften, wird das auch das Ende von Kiss sein“ – hatte Simmons am Anfang ihrer Karriere prophezeit. Doch nun? Im November kommen sie unmaskiert auf Tournee- und von einem endgültigen Abschied kann auch danach nicht die Rede sein. Das jedenfalls behaupten Simmons und Paul Stanley im Interview, das anläßlich unserer Special Story in New York geführt wurde.
Eines Tages – in ein, zwei Jahren – werden sie die Masken lüften,“ vermutete Larry Harris, Vizepräsident von Kiss 1 Plattenfirma Casablanca Records, bereits 1976. Er sollte sich irren – wie alle, die auf eine vorzeitige Enthüllung des Rock-Spektakels gesetzt hatten.
Kiss ließen sich in den nächsten Jahren weder in die Karten noch hinter die Kulissen schauen. Sie zogen mit wachsender Popularität eine immer größere Mauer des Schweigens, einen festen Ring aus Geheimnissen und Gerüchten um sich und ihre wahre Identität.
Erst im September dieses Jahres, anno 1983, hatte die Maskerade ein unerwartetes Ende, als sich Gene Simmons, Paul Stanley, Eric Carr und Vinnie Vincent im amerikanischen Fernsehen so zeigten, wie sie wirklich aussehen: ungeschminkt. Auf der für November angesetzten Deutschland-Tournee werden sie dann erstmals auch „nackt“ auf der Bühne stehen.
Für Kiss beginnt damit ein neues Kapitel: Genau zehn Jahre liegen zwischen Anfang und Ende, zwischen Ver- und Enthüllung. Ein Zeitraum, in dem die Band durch spektakuläre Shows, „heavy metal, kick-ass rock n‘ roll“ und ihrem cleveren Image weltweit Aufsehen erregte. Wie Phantome von einem fernen Stern sahen sie aus, abenteuerlich verkleidete Gestalten in riesigen Stiefeln, fleischgewordene Comic-Figuren. Ein kometenhafter Aufstieg zu Teenager-Idolen folgte, ehe Anfang der achtziger Jahre der Kiss-Stem langsam verblaßte.
Mit weit über 50 Millionen verkauften Alben und einem Platzregen an Auszeichnungen zählen Kiss zu den Spitzenverdienern, zu den Mega-Groups der siebziger Jahre. Musikalisch dagegen, auf Platten, in den Songs wie auch an den Instrumenten, waren sie nicht gerade bedeutend. Selten origi nell, was das Material betrifft, lieferte man überwiegend durchschnittliches Handwerk ohne solistische Glanzpunkte, grobmaschigen Heavy-Metal, der sich bis auf wenige Ausnahmen streng an die Vorlagen hielt.
Wo andere US-Bands wie MC 5, Stooges bis hin zu Mountain oder auch Aerosmith sich auf eindrucksvolle Weise von den stilistischen Anleihen gelöst und persönliche Ausstrahlung ins Spiel gebracht hatten, standen bei Kiss Klischees im Vordergrund: Einfache, im Aufbau und Arrangement durchsichtige Standard-Melodien, die trotz vehementer Lautstärke harmlos und emotionslos wirken. Fertigprodukte, denen nachträglich Aromastoffe beigemischt wurden.
Mit einer „Comic-Seite in der Wochenend-Ausgabe“ hat sie der Kritiker Lester Bangs einmal verglichen – und damit zumindest eine Seite von Kiss getroffen. Denn von Beginn an waren Comic, Theater, die ins Gigantische gesteigerte Show einer der Schlüssel zum Erfolg, der optische Rahmen, in dessen Mitte sich die Helden bewegten. Beides. Heavy-Rock und Show, ergänzten sich zu einer amerikanischen Traumfabrik auf Plateau-Sohlen.
Im New Yorker Stadtteil Queens fiel der Startschuß, als Gene Simmons auf Paul Stanley traf – und beide 1972 den Plan für ein außergewöhnliches Projekt ausarbeiteten. Simmons, ein Fan von Horror-Comics, Science-fiction und selbst Fanzine-Herausgeber, schwebte eine Band vor. die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellten sollte. Mit Peter Criss, auf den man durch eine Anzeige („Drummer mit elfjähriger Erfahrung macht alles, um es zu schaffen“) aufmerksam wurde, war schon bald ein geeigneter Mitstreiter gefunden. Ein weiterer New Yorker, Ace Frehley, verstärkte die Band wenig später an der zweiten Gitarre.
Zu viert (Simmons am Baß und Gesang, Stanley und Frehley Gitarre und Criss am Schlagzeug) bastelte man in den nächsten Monaten am Konzept einer „Showband“, in der sich – ähnlich wie bei Alice Cooper – theatralische Elemente mit musikalischen Einflüssen der Who, Stones und Jimi Hendrix zu einer überwältigenden Show verbinden sollten.
Nur der passende Name für das ehrgeizige Vorhaben fehlte noch; schließlich einigte mansich auf „Kiss“. ein ebenso einprägsames wie einfaches Logo, das der Band von nun an als Markenzeichen diente.
Die ursprünglich im Logo verwendeten SS-Runen lösten dabei vor allem in Deutschland den größten Wirbel aus. Doch genau das war es, was Kiss wollte: Aufmerksamkeit um jeden Preis, um damit (anfängliche) Schwachstellen in der Musik zu übertünchen.
Neben zahlreichen Auftritten in New Yorker Clubs war es vor allem die geschickt eingefädelte Eigenreklame, mit der man sich zunehmend Beachtung verschaffte. Mit Konzerttickets, die an wichtige Leute der Musik-Industrie verschickt wurden, lenkte man die Aufmerksamkeit konsequent auf die neue, spektakuläre Band.
Eines der Tickets landete auf dem Tisch von Rill Aucoin. Produzent der Music-Show „Flipside“. Am 4. Juli 1973, nach einem Konzert im Crystal Room des New Yorker Diplomat Hotels, nahm er sie unter Vertrag. Aucoin und sein Management „Rock Steady“ wurden die Zentrale, die die Karriere des Quartetts steuerte und aus den belächelten Anfängern eine erfolgversprechende Band formte.
Innerhalb von fünf Monaten hatte Sean Delaney, Aucoins rechte Hand, ihnen das Einmaleins der Live-Show beigebracht. Delaney: „Ich arbeitete mit ihnen wie ein Choreograph, zeigte ihnen, wie man sich bewegt, wie man große Gesten macht.“
Inzwischen hatte man auf Aucoins Vermittlung hin als erste Band überhaupt bei Casablanca Records unterzeichnet, einer kleinen, noch jungen Plattenfirma, die sich jedoch auf Anhieb als optimale Wahl erwies. Wie Aucoin, so war auch Neil Bogart. Präsident des Labels, sofort bereit, die Band mit allen Mitteln zu unterstützen, um aus ihr „etwas Spektakuläres“ zu machen. Bogart: „Wir haben alles in sie hineingesteckt, was wir hatten.“
Auf diese Pfeiler. Rock Steady und Casablanca, gestützt, ging es rasend schnell bergauf. Auf den ersten Auftritt in der New Yorker „Academy“. Neujahr 1974, folgten zahlreiche Tourneen, auf denen man sich mit einer pompösen Show und im Stil einer „working band“ eine stetig wachsende Fangemeinde erspielte.
Anfang 1974 noch im Vorprogramm, wendete sich bereits ein Jahr später das Blatt, gaben Kiss den Ton an als Headliner. während namhafte Bands wie Blue Oyster Cult das Vorprogramm bestritten. Fast über Nacht waren aus den Nobodies Champions geworden, auf dem Sprung in die Schwergewichts-Klasse. „Eine Herde wildgewordener Büffel“, wie der Rolling Stone sie nannte, die nicht mehr zu bremsen war. Die Kiss-Welle rollte.
Dagegen fiel das Plattendebüt mit KISS (1974) und auch der folgenden HOTTER THAN HELL aus dem gleichen Jahr bei weitem nicht so imposant aus wie die Live-Auftritte, kam man über Achtungserfolge nicht hinaus. Sounds schrieb: ….. das ist stumpfer Plagiat-Hard-Rock der reduzierten Preisklasse. Schale Küsse ohne Pepp…“
Zwar versuchte man, mit einfachen Studiomitteln und straffen, kompakten Songs ein hohes Maß an Wirkung zu erzielen: doch die fehlende Live-Atmosphäre, das mangelnde Überraschungsmoment, die plötzliche Richtungsänderung innerhalb eines Songs waren kaum zu überhören.
Unabhängig davon und oft gegen den Widerstand der Presse, die in Kiss vornehmlich ein cleveres Musik-Unternehmen sah, schaffte man’s auf anderen Ebenen, die Kids an sich zu binden.
Ständiges Touren, dazu eine Show aus Glitter. Glamour, Horror und Heavy-Metal-Würze, alles größer als Alice Cooper. Die New York Dolls oder Grand Funk Railroad sicherten Kiss den Ruf einer Band, die nach den Sternen griff. Selbst Uncle Sams Aufforderung „Join The Army“ blieb nicht verschont und wurde von den Fans in „Join The Kiss-Army“, die Losung der Fanclubs, umgetauft.
So schnell die Erfolgsnadel nach oben zeigte, so clever waren auch die aufwendigen Werbefeldzüge, mit denen Aucoin und Casablanca das Kiss-Fieber zusätzlich anheizten.
Hatte das dritte Album DRESSED TO KILL (1975) schon einen leichten Aufwärtstrend verzeichnet, so entwickelte sich ALIVE, das von Eddie Kramer produzierte, erste Live-Album der Band, zum Millionenseller. Endlich stellte man auch auf Platte sein Format unter Beweis. Songs wie „Strutter“ oder „Deuce“ von der ersten und „Hotter Than Hell“ von der zweiten Studio-LP wurden hier mit der eigenen Stahlbürste gereinigt, auf Live-Hochglanz poliert und von energischen Gitarren im Vorwärtsgang in eine abwechslungsreiche Form gebracht.
Mit ALIVE von 1976 setzten sich Kiss unangefochten an die Spitze der amerikanischen Metal-Bands – noch vor Aerosmith und anderen Größen. Inzwischen gab auch die Kritik ihre ablehnende Haltung auf und stimmte teilweise wahre Lobeshymnen an. Wie etwa Cashbox, ein amerikanisches Musikmagazin, das schrieb: ….. das größte Ding, das der Heavy-Metal seit Erfindung des Marshall- Verstärkers zu bieten hat. „
Ausverkaufte Hallen, Stadien, Konzerte vor 40000 Zuschauern, überall Kiss-Armeen, geschminkt wie ihre Idole auf der Bühne – das unterstrich den Stellenwert der Band eindrucksvoll. Ihre Anziehungskraft hatte etwas von einem Hollywood des Heavy-Metal, ein Phänomen vor einer grell glitzernden Kulisse. Bob Ezrin bezeichnete sie als „Zeichen des entfesselten Bösen und der Sinnlichkeit“.
Ezrin, bekannt als Produzent von Alice Cooper, war es auch, der dieses Image in die Aufnahmen zu DESTROYER einfließen ließ. Kiss‘ Stil wurde runder, die Melodien genauer und voluminöser. Alle Songs, darunter die späteren Kiss-Klassiker „Detroit Rock City“ und „God Of Thunder“, überzeugten durch den dichten, mitunter aggressiven Sound, auf den Ezrin besonders Wert gelegt hatte. Als DESTROYER 1976 erschien, lag damit Kiss‘ Studio-Meisterstück vor. Gene Simmons, der Bassist. Sänger und mit Gitarrist Paul Stanley für die meisten Kompositionen verantwortlich, kommentierte das Ergebnis so:
“ Wir sind durch unser Aussehen zu dem geworden, was wir jetzt sind, zugegeben. Aber die Musik tritt jetzt immer mehr in den Vordergrund.“
Weitere Alben folgten, ROCK AND ROLL OVER noch im selben Jahr und LOVE GUN 1977, darauf die Hits „Beth“, „Hard Luck Woman“ und „Calling Dr. Love“. Bis man mit dem zweiten Live-Album ALIVE II 1977 auch den letzten Zweifel an ihrer Größe einfach überspielte und erneut weltweit in den internationalen Charts auftauchte.
Anfang 1978 kam der Break, zog man sich nach zahllosen strapaziösen Touren überraschend zurück und bereitete in aller Stille die ersten Soloplatten rvor, die noch im gleichen Jahr, am selben Tag, veröffentlicht wurden.
Gerüchte über Trennungs-Absichten konterte man 1979 auf seine Weise, mit einer neuen gemeinsamen LP DYNASTY. Das Werk zeigte, wie sicher Kiss im aktuellen Trend lagen: Eingeflochtene Disco-Rhythmen und der hautnahe Heavy-Sound verschmolzen zu einer explosiven Einheit, die besonders im Hit ,I Was Made For Loving You“ zündete.
Nach dem Spielfilm „Kiss – In The Attack Of The Phantoms“ mit Gene Simmons, Paul Stanley, Peter Criss und Ace Frehley in den Hauptrollen, lief bereits 1980 die nächste Platte vom Band. UNMASKED. so der Titel, versprach zwar die langerwartete Demaskierung, doch der schillernde Vorhang blieb weiterhin geschlossen.
Mit dem Ausruf Kiss ist das größte Schauspiel seit dem Tod“ hatte der Rolling Stone sie bereits 1977 auf den Sockel gehoben. Doch der bekam nun allmählich Risse, als Peter Criss, der Drummer, absprang. Mit Eric Carr war man zwar bald wieder komplett, doch die Kiss-Traumfabrik lief nicht mehr wie gewohnt auf vollen Touren. MUSIC FROM THE ELDER, ein Konzept-Album, das man mit Bob Ezrin als Produzenten eingespielt hatte, erwies sich als Flop im Vergleich zu den Erfolgen der vorigen Alben. Der Versuch, neue Akzente zu setzen, ein in sich geschlossenes Album vorzustellen, fand trotz hervorragender Kritiken kaum Anklang beim Publikum.
Bald darauf trennte man sich von Bill Aucoin. dem Mann, der Kiss‘ steile Karriere über Jahre hinweg gemanagt hatte. Als 1982 CREATURES OF THE NIGHT, das insgesamt 17. Album, auf den Markt kam, schienen die Wogen wieder geglättet zu sein, präsentierte sich Simmons in alter Frische: „Das Album kann Tote wecken …“
Doch die Zuversicht täuschte, denn Kiss waren auf CREATURES weit von ihrer Bestform entfernt; kaum einmal eine Überraschung, ein Einfall, der das rhythmisch enge Korsett auflockerte oder gar sprengte.
Wie stark die Brandung innerhalb der Band wirklich war, wurde deutlich, als in diesem Jahr Gitarrist Ace Frehley das Handtuch warf. Seine Stelle übernahm ein Unbekannter namens Vinnie Vincent, der eigentlich Cusano heißt und bereits auf CREATURES für Frehley die Gitarre bedient hatte.
Was Kiss so faszinierend machte, war die bis ins Detail durchdachte Show, das gigantische Spektakel, das man bei jedem Auftritt vor dem Publikum entfaltete. Die Musiker waren dabei die Hauptdarsteller in einer Person: Gene Simmons, der „Vampir“ und „Dämon“ mit Fledermausflügeln, Paul Stanley als „Sternenkind“, Ace Frehley der „Spaceman“ und Peter Criss die „Katze“. Phantasie und Fabelwesen mit silbrig-metallischem Make-up aus Horror-Comics und Science-fiction-Serien. Es war, als ob Walt Disney, Superman und Frankenstein auf einer Bühne stünden.
Und nun – das Ende? Natürlich gibt es Gerüchte, daß mit den Masken auch der letzte Vorhang fallen soll. Die Gags sind nach zehn Jahren abgestumpft – und mehr als Feuer und Blut spucken kann auch ein Gene Simmons nicht. Was bleibt als… der geniale Einfall, das sinkende Interesse mit der Demaskierung noch einmal (das letzte Mal?) anzuheizen.
Man wird sehen, wie es weiter geht. Sollten Kiss die Bühne tatsächlich für immer verlassen, so wird man ihnen – aus rein musikalischer Perspektive – sicher keine Träne nachweinen. Trotzdem: Eines der schillerndsten Exemplare der Rock-Spezies gäbe es dann weniger…