Kreative Seele


Wie Woody Allen und Spike Lee ist David Byrne ein „true New Yorker“, man sieht ihn ständig in der Stadt: Er hievt sein Fahrrad in die U-Bahn, stöbert in Plattenläden oder holt im West Village Kaffee. Ein paar Schritte abseits der 5th Avenue bewohnt er mit seiner Familie ein schmales Häuschen mit verwildertem Garten. Im Keller hängen gigantische Fotos von leeren Räumen (eine alte Leidenschaft) und nach innen gestülpten Gesichtsmasken (ein neuer Spleen). Hier verwirklicht sich Byrne künstlerisch komponiert, zeichnet und designt. Sein Kollege Yale Eveiev, mit dem er seit 1988 das Label „Luaka Bop“ leitet, begutachtet gerade kopfschüttelnd Byrnes neueste Schöpfung: ein mit Aliengesichtern bemaltes Tassenset, das in einem grauen Plastik-UFO, verpackt ist. „Es ist unfassbar, was der Typ alles macht“, sagt er lächelnd vor sich hin. Die unermüdliche Kreativität von Byrne ist selbst für seine Freunde erstaunlich. Neben unzähligen Seitenprojekten trifft Byrne alle Entscheidungen seines weltweit respektierten Labels „Luaka Bop“, auch wenn er sich gerne bescheiden gibt. „Ich habe meinem Team vier Vorschläge für neue Sampler gemacht“, verrät er. „Ich bin sicher, dass nicht alle akzeptiert werden. Ich versuche, nicht zu sehr den Diktator zu spielen.“ Obwohl Byrne heute mit Cornershop, Geggy Tah und Jim White auch erfolgreiche englischsprachige Acts unter Vertrag hat, ging es ihm einst nur darum, die südamerikanische Musik populärer zu machen, die er selbst so liebt: „Als ich mit Luaka Bop anfing, hatte ich keine grossen Pläne, ausser ein paar Sampler mit brasilianischer Musik zu veröffentlichen. Mir fiel auf, dass Salsa-Clubs in den 8oern die einzigen Bars waren, die sexy Tanzmusik live gespielt haben. Wie gute DJs haben die Bands das Publikum in der Hand gehabt.“ Und so veröffentlicht der Ex-Talking Head und Design-Student die seltsamsten Platten aus Südamerika und inzwischen auch der ganzen Welt, obwohl er bei der Kategorisierung „World Music“ die grossen Augen zusammenkneift. „Diesen Ausdruck benutzt man immer, wenn man ausdrücken will, dass die Musik eines Künstlers irrelevant für das eigene Leben ist“, analysiert er treffend. „Exotisch eben: schön, aber irrelevant.“ Die Bandbreite, die „Luaka Bop“ inzwischen abdeckt, reicht von Dance-Projekten aus Venezuala über Psychedelic Rock aus Kolumbien bis hin zu versponnenem Alternative-Radau aus Kalifornien. Popmusik sei das alles, meint David Byrne und springt auf, um zum Amüsement seiner Team-Kollegen seine Tochter ungehalten zum Auto zu kommandieren. Noch einmal steckt Byrne den Kopf zur Türe rein. „Wir machen einen mehrtägigen Ausflug zum Grand Canyon“, entschuldigt er etwas unsicher, und aus seinen grossen Augen blitzt wieder ein bisschen jene kreative Nervosität, die den Funk der Talking Heads so einzigartig machte, (lin)

LOSAMIGOS INVISIBLES

Amor 4:10 Sexy 3.24 Außergewöhnliches Funk-Dance-Projekt aus Venezuela.

Angeödet von aufoktruiertem Nationalismus und einer verschlafenen Clubszene gründeten Julio Briceno und Jose Luis Pardo Mitte der 90er die erste und einzige Funk/Dance/Acid-Jazz Band in Caracas, Venezuela. Mit diesem für ihre Heimat völlig atypischen Projekt erregten Los Amigos Invisibles die Aufmerksamkeit von David Byrne, der die jungen Talente für Konzerte nach New York holte und unter Vertrag nahm. Nach dem Vorbild der neuen Generation live-orientierter Dance-Acts wie z.B. Groove Armada versuchen Die unsichtba ren Freunde, die musikalische Flexibilität eines DJs mit Instrumenten auf der Bühne umzusetzen: „Wir stehen der DJ-Kultur nahe, sehen uns aber als Sand“, erklärt Jose Luis, „wir wollen das alles mischen.“

SUSANA BACA

DeLosAmores5:i3 MolinoMolero255 Bedeutende Botschafterin für afro-peruanische Kultur.

Susana Baca wuchs in einem Vorort von Chorrillos in der Nähe von Lima auf, zwischen armen Fischern und streunenden Katzen. Mit Willenskraft besiegte sie ihr Asthma, lernte Singen und Tanzen und wurde schon zu Studienzeiten eine VIP. der peruanischen Kultur. Unterstützt durch Stipendien des Institute Of Modern Art begann sie, Poesie mit Musik-Performance zu verbinden, und spielte sich damit in die Herzen ihrer Landsleute. Heute ist Baca die wichtigste Botschafterin für afro-peruanische Kultur, mit modernen Versionen traditioneller Songs bewahrt sie historische Schätze und entwickelt sie gleichzeitig weiter. „Ich hatte nie vor,ein Museum für Verstorbene zu werden“, erläutert sie. „Indem ich Altes und Traditionelles neu interpretiere, verbindet sich alles, was wir haben, zu einer unendlichen Geschichte.“

GEGGYTAH

Whoever You Are 4:33 Last Word (The One For Her) 432 Fun-Rock-Trio aus Kalifornien mit Aumahmepianist Kurstin.

Geggy Tahs Tommy Jordan tut das, was uns allen lange ein Anliegen war: Er bedankt sich bei den zahllosen AutomobiHenkern, die auf vielbefahrenen Straßen höflich bremsen oder ausweichen, damit wir die Spur wechseln können. Hallo Friedensnobelpreis! Wenn’s nicht reicht, dann sei ihm wenigstens ein Alternative-Rock-Hit-Singelchen gegönnt, die Nummer ist witzig genug. „Wenn Musik Milch ist. dann sind wir die Milchmänner“, philosophiert Jordan über seine kalifornische Band, die David Byrne in höchsten Tönen lobt:“Geggy Tah sind so postmodern, dass sie schon wieder auf der anderen Seite rauskommen.“ Jordans Partner ist Ausnahmepianist Greg Kurstin, Schüler von Charles Mingus‘ Tastenmann Jaki Byard.

MIMI PieceOf Cake4:S2

Ex-Diva des Intellektuellen-Punk mit sensiblem Solo-Debüt.

Mimi Goese flirtete bereits in den 8oern als Sängerin von Hugo Largo mit den Intellektuellen der Punk-Pop-Szene. Deren schwer verdauliche Alben erschienen damals auf Brian Enos“Opal“-Label, für ihr Solo-Debüt wurde sie nun von David Byrne unter Vertrag genommen. Die Künstlerin wuchs mit acht Geschwistern in Wisconsin auf und entwickelte schnell (später karrierefördernde) Taktiken, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Ihre introvertierten, sphärischen Songs werden von einer sorgfältig agierenden Band umgesetzt. Unter den Musikern findet sich übrigens auch ein alter Weggefährte: Hahn Rowe (Scratching, Gitarre und Violine), wie Mimi früher bei Hugo Largo.

JIM WHITE

Book Of Angels 4:54 Lebenskünstler und Sonderling mit verstörendem Americana.

Zwischen Post-Country, düsterem Americana und Trip-Folk sucht ein Sonderling nach seinem Sound, verirrt,einsam und ein bisschen verzweifelt. Jim White ist mitten im religiös-fanatischen amerikanischen Bibel-Belt aufgewachsen, ohne sich je wirklich zugehörig zu fühlen: „Die Community war total polarisiert“, erzählt er kopfschüttelnd. „Man war entweder in der Kirche oder heroinabhängig.“ White interessierte sich hauptsächlich für Surfen und suchte als Erwachsener nach seinem eigenen Weg. Der führte ihn vom Laufsteg in Mailand hinter das Lenkrad eines New Yorker Taxis. Obwohl er sich mit einer Bandsäge die linke Hand verstümmelte, zwang er sich wieder zum Gitarrespielen und ließ sich schließlich von einem Freund überreden, Demos zu verschicken. Halbherzig (ohne vollständige Absenderadresse) kontaktierte er auch Luaka Bop und fand mit seinen verquer spirituellen und athmosphärischen Songs in David Byrne einen interessierten Zuhörer.

KING CHANGO

Confesion 5:41 Fußballverrückte Latin-Ska-Combo aus Venezuela.

Afrikanische Rhythmen mit venezueler Folklorejamaikanischer Dub synchron dem Puls von New York: King Changö sind die Könige des Latin-Ska. „Unser Latin-Zeug kam plötzlich zum Zug, als die Ska-Szene mit Bands wie MU 330, No Doubt und den Mighty Mighty Bosstones offener und punkiger wurde“, analysiert der fußballverrückte Frontmann Andrew Blanco.Wie bei Manu Chao steht bei dem Projekt die Tanzbarkeit im Vordergrund, es geht um Lebensfreude und Ausgelassenheit. Ach ja, und Bescheidenheit:“Changö ist in der afro-kubanischen Religion der Gott der Musik und des Feierns. Es war der perfekte Name für uns“, so Blanco, der kürzlich den schwarzen Gurt zweiten Ranges im Karate erworben hat.

BLOOUE

Nena4i2 Kolumbianer mischen schweren Rock mit Salsa und Bossa.

Als David Byrne das Tape von Bloque in die Hände fiel, buchte er einen Flug nach Bogota, um den Kolumbianern auf den Zahn zu fühlen.“Wir konnten in der Wohnung des Gitarristen Teto in der Altstadt rumhängen“, freut sich Byrne. „Live waren Bloque unglaublich dynamisch und haben musikalisch und charakterlich zusammengepasst.“ Benannt nach der Escobar-Drogen-SOKO stürzen sich Bloque mit Rock’n’Roll-Energie in Salsa und „Psychotropical Funk“, als ob Hendrix in kolumbianischen Kokaplantagen aufgewachsen wäre. Led Zeppelin nennen sie an erster Stelle,fragt man die Gruppe nach maßgeblichen Einflüssen, aufgewachsen sind sie aber in der heimatlichen Tradition. Zusammengafunden haben sich die Musiker als Studio- und Live-Band für den Latino-Superstar Carlos Vives.

LOSDEABAJO

Son De La Liberacion 5:44 Eine der wenigen politischen Latin-Bands aus Mexico.

1992 tauchte die Bigband um Sänger Liber Terän im mexikanischen Punk-Untergrund auf und entwickelte einen Stil zwischen Ska und politischem Latin-Core. „Alternative Latin“ heißt das bei den Grammy-Verleihungen, ein junges Genre, das Los De Abajo mit ihrem Salsa-Punk entscheidend geprägt haben. Themen wie Armut und fehlende Kanäle für freie Meinungsäußerung sind der Band so wichtig wie die Latinbeat-Verpackung: „Desillusionierung verbindet die Generation-Xer auf beiden Seiten des Rio Grande“, postuliert Drummer Yocupitzio Arrellano. „Man muss damit fertig werden, in einem korrupten System zu leben.“ „Son De La Liberacion“ ist mit den komplexen Bläserarrangements ein Musterbeispiel für den Stil, der David Byrne auf seiner „Uh-Oh“-LP inspiriert hat.

OSMUTANTES

Baby (1971) 3:39 Brasilianisches Psychedelic-Wunder der 60er Jahre.

Die Band Os Mutantes war vielleicht das kurioseste Pop-Phänomen Brasiliens. Zwischen den Polen Beatles, John Cage und Bossa Nova operierte das faszinierende Trio Ende der 60er Jahre musikalisch in einem Universum, das Lichtjahre von Brasiliens restlicher zeitgenössischer Popmusik entfernt war. Sogar Kurt Cobain selig liebte diese Band so sehr, dass er mit ehemaligen Mitgliedern Kontakt aufnahm und versuchte, die Platten von Os Mutantes in den USA zu veröffentlichen. Was der Nirvana-Sänger nicht schaffte, gelang aber David Byrne und seinem Label „Luaka Bop“: „Es schien fast unmöglich,an Mutantes-Alben ranzukommen. Wir hatten nur eine Kassette im Büro. Vor einiger Zeit begann das Label in Brasilien, alte Originale wiederzuveröffentlichen – so kam die Sache ins Rollen.“ Rita Lee Jones und ihre Brüder Arnaldo und Sergio Baptista waren die ersten, die traditionelle brasilianische Musik mit westlichem Rock’n’Roll aufpeppten und damit zu einer der einflussreichsten Combos Südamerikas wurden.

WALDEMAR BASTOS

Sofrimento4:O5 Exil-Angolaner mit musikalischem Elefantengedächtnis.

1954 wurde mit Waldemar Bastos in Angola eines der größten musikalischen Talente Südwest-Afrikas geboren. Nach einmaligem Hören konnte er jedes Lied wiederholen und lernte so traditionelle Weisen und Brasil-Balladen im Schnellverfahren. Als Anfang der 80er Jahre das politische Klima für Künstler in seiner Heimat unerträglich wurde, floh der geniale Musiker Bastos über Portugal nach Brasilien, wo er ungestört sein Debüt einspielte. Heute lebt er in Portugal, nimmt Platten für „Luaka Bop“ auf und tourt quer durch Europa und Afrika. Er musiziert noch immer fast ausschließlich nach Gehör.

TOMZE

Curiosidade4i2 Legendärer Songschreiber und flexibler Musiker aus Brasilien.

Tom Ze begann seine Karriere als Straßenmusiker in seiner brasilianischen Heimatstadt Irara. Im Zuge der Tropicalista-Bewegung in den 7oern wurde er zu einem geschätzten Satire-Songschreiber, um sich dann neu zu erfinden und mit Hilfe von Küchenmixern, Schreibmaschinen und präparierten Akustik-Gitarren experimentelle Musik zu machen, die das Publikum oft überforderte. Nicht so David Byrne, der den skurrilen Tom Ze für sein Label „Luaka Bop“ unter Vertrag nahm und ihn dazu überredete, neue Platten einzuspielen.