Kritik

„Messiah“ auf Netflix: Was, wenn Jesus als Terrorist wiederkehrte?


Wie „Leftovers“ mit mehr Bodenhaftung und „Homeland“ mit weniger: Die neue Netflix-Serie „Messiah“ stellt die spannende Frage, was passieren würde, wenn Gottes Sohn heute wiederkehrte – und vielleicht gar nicht Gottes Sohn ist.

Die Idee zum Drehbuch von „Messiah“, der am 1. Januar 2020 gestarteten, zehnteiligen Netflix-Serie, hatte eigentlich John Niven. In seinem satirischen Roman „Second Coming“ (2011) stellte der britische Autor das Gedankenspiel auf, was wohl wäre, wenn Jesus Christus in unsere gegenwärtige Welt wiederkehrte. Gottes Sohn sähe die Verrohung der Menschheit, die einsetzt, wenn sein Vater mal ein paar hundert Jahre nicht aufpasst. JC, wie seine neuen Erdenfreunde ihn nennen, soll helfen und könnte dank seiner Macht ja auch, aber keiner glaubt ihm. Er versucht sich als Musiker und landet als vermeintlicher Freak in einer Castingshow. Im Kern erzählt „Messiah“ von Michael Petroni („The Ritual“) die gleiche Geschichte. Nur ohne Witz, aber mit mehr Mystery und Drama. Um nicht Sprengstoff zu sagen.

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„Messiah“ beginnt wie eine Bibelgeschichte: Im Syrien der Jetztzeit führt ein junger Mann 2000 Menschen in die Wüste. Sie sind jung und ahnungslos oder alt und gebrechlich. Sie wissen nicht, wie ihr Führer heißt, wer er ist oder was er vor hat. Aber sie nennen ihn Al-Masih und Īsā, die arabische Bezeichnungen für „Messias“ oder gleich „Jesus“. Der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Bet ist alarmiert. Auch die CIA, die von der Wanderung Wind kriegte und über Satellit beobachtet, ist ratlos. Als die Gruppe an einem israelischen Grenzposten ankommt, droht die Situation zu eskalieren. Al-Masih (Mehdi Dehbi) wird festgenommen und verhört, seine ziel- und führungslose Folgschaft harrt sodann tagelang in der Wüste aus.

Traue niemandem!

Von jetzt an häufen sich die mutmaßlichen Wunder: Al-Masih verschwindet wie von Geisterhand aus seiner Zelle und taucht in der Altstadt Jerusalems wieder auf. Am Tempelberg, auf den Stufen vor der al-Aqsa-Moschee, heilt er mutmaßlich einen Jungen, der in der Gemengelage erschossen wurde, die Beweisvideos der Augenzeugen landen sofort auf Twitter und Instagram. Und – Szenenwechsel zum zweiten zentralen Schauplatz in „Messiah“ – als ein texanisches Dorf mit Ausnahme seiner Kirche von einem Hurricane dem Erdboden gleichgemacht wird, taucht Al-Masih wie aus dem Nichts dort auf, rettet der Tochter des Pfarrers das Leben und verwandelt den Ort durch sein Erscheinen zu einem Pilgerort. Schin-Bet-Agent Aviram Dahan und CIA-Agentin Eva Geller reisen hinterher. Es beginnt eine Tour de Force durch Glauben, Spekulation, Antizipation und Bekehrung, Bevormundung und Instrumentalisierung.

Kritiker und Folger, Freunde und Feinde, sie alle eint die eine Frage und die Suche nach der Antwort: Was will der Kerl, wer ist er? Ist Al-Masih ein Terrorist von neuer Qualität? Ist er ein Blender? Oder ist er wirklich der Sohn Gottes und Erlöser, für den er sich mindestens indirekt ausgibt? Die Sätze, die er sagt („Eine neue Welt beginnt“, „Die alte zählt nicht mehr“ usw.), könnten beide Extreme belegen, seine Taten sprechen einige Zeit für letzteres. Und selbst wenn: Befreit der Erlöser „uns“ wirklich oder löst er, so friedlich er auch ist, durch seine schiere Existenz Unruhen und Kriege aus?

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Die Kritikpunkte an „Messiah“

Die teilweise berechtigte Kritik an der US-Serie „Messiah“ provozieren Erfinder Petroni, seine Regisseure James McTeigue („Sense 8“) und Kate Woods („Person of Interest“, „Crossing Jordan“, „Unsolved“) sowie die Drehbuchautoren regelrecht:

  1. Für Christen, Muslime, Juden dürfte die Darstellung von Jesus und ihren Weltreligionen mitunter die Grenze zur Blasphemie überschreiten.
  2. Nicht jeder arabisch sprechende Gläubige oder Prediger gehört unter Terror-Generalverdacht.
  3. Al-Masih sieht aus wie ein Jesus-Klischee.
  4. Die USA ist für den Weltfrieden nicht allein verantwortlich.
  5. Religion wird spätestens im Schnitt mit Fanatismus gleichgesetzt.
  6. Der weltweit größte Kritikpunkt an „Messiah“ ist aber der, der die Serie auch so unglaublich spannend macht: Vielleicht ist Al-Masih nicht nur ein Kriegsbringer im Friedensgewand, sondern der buchstäbliche Antichrist. Dies behaupten zumindest gläubige Muslime – schon einfach deshalb, weil in der islamischen Eschatologie der Anti-Messias den Namen Al-Masih ad-Dajjal trägt. Und hey: Don’t fuck with religion, das sollte die säkularisierte Welt doch nach dem Anschlag auf die „Charlie Hebdo“-Redaktion kapiert haben!

In „Messiah“ werden neben Kunst-  und Glaubensfreiheit weitere Konflikte offen ausgetragen: Ob Israel vs. Palästina, Waffengesetze in den USA oder die Auslegung von Samuel P. Huntingtons „Kampf der Kulturen“, das in der Serie eine gewichtige Rolle spielt – eine „new world order“ wird in jedem noch so leisen Dialog und jedem Blick mitverhandelt.

„Messiah“ ist wie „Homeland“ mit religiösem Überbau

Aus cineastischer Perspektive betrachtet liegen die Parallelen zu ähnlich gelagerten Serienthrillern und -dramen auf der Hand: In „Homeland“ (Showtime) war es ein verdienter Kriegsheimkehrer, der als Held gefeiert wird, mit Traumata zu kämpfen hat – und CIA-Agentin Carrie Matthison (Claire Danes) ihm und seiner Geschichte nicht traut. In „The Leftovers“ (HBO) verschwindet ein Teil der Menschheit und die Zurückgebliebenen suchen Antworten. Sie finden welche in einem texanischen Ort namens Miracle, in dem ein Pfarrer eine Kirche aufbaut. Ganz wie in „Messiah“. Und da eine sich um die USA als Mittelpunkt des Weltgeschehens drehende „Geheimagenten verhindern Terror und Weltkrieg“-Serie nicht ohne Referenz an die erste ihrer Art auskommen darf, erinnert „Messiah“ im weiteren Verlauf nicht nur wegen des Split Screens auch an „24“: Natürlich ist nicht nur den Fremden aus Nahost, sondern auch möglichen Maulwürfen in den eigenen Reihen nicht zu trauen. Ob indes „Messiah“ seine Agenten im Falle von weiteren Staffeln so interessant gestalten kann wie bei seinen Vorbildern, darf bezweifelt werden.

Bibelplagen und -Namen tun ihr Übriges: Am Ende der ersten Staffel bleiben ein scheinbares oder anscheinendes Wunder und, natürlich mehr Fragen als Antworten. Wie bei jeder hinterfragten Glaubensrichtung.

„Messiah“ auf Netflix – der offizielle Trailer:

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„Messiah“, Staffel 1, 10 Folgen, seit 1. Januar 2020 auf Netflix im Stream verfügbar. Ob es eine zweite Staffel geben wird, ist noch nicht bekannt.

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„Messiah“ auf Netflix: Was in Staffel 2 passieren könnte