Nena’s Next


Daß sie den Kinderschuhen entwachsen sind, merkt man nicht nur an den Jaguars und Alfa Romeos, die draußen vor der Studiotür parken. FEUER UND FLAMME, Nenas dritte LP, wurde diesmal in Berlin, London und Ibiza auch mit beachtlichem Aufwand in Szene gesetzt. Hannes Rossacher, Macher der TV-„Musikszene“ und ME/Sounds-Mitarbeiter, konnte die Geburtswehen aus nächster Nähe verfolgen.

Nachmittags in der Leibnitzstraße. „Fabrik“ steht am Türschild. Im Office von Jim Rakete, dem rührigen Nena-Manager, trudeln nach und nach die Bandmitglieder ein. An der Wand: jede Menge Goldtrophäen von Nena, Spliff, Nina Hagen. Auf dem Plattenteller: Springsteen, BORN IN THE USA.

Seit mehreren Wochen steht die Gruppe täglich im Spliff-Studio, um an den Aufnahmen für die neue LP zu basteln. Doch am heutigen Sonntag ist eine Ausnahme: Produzent Reinhold Heil nimmt ein Streicher-Arrangement auf; der studiofreie Tag muß für eine Fotosession genützt werden. Während Rolf und Nena im neuen „Rolling Stone“ blättern, wird Jürgen geschminkt. Der Boden des Zimmers ist übersät mit Entwürfen fürs Cover. Carlo diskutiert mit Jim über das Layout; die Assistenten packen derweil das Fotoequipment runter in den Wagen.

Uwe plaudert übers neue Album:

„Wir haben im Prinzip schon letztes Jahr begonnen, Stücke zu schreiben; im November zogen wir uns nach Frankreich zurück, um in Ruhe die Demos auszuarbeiten; seit Anfang Februar sind wir im Studio. “ Der weitere Countdown: bis Mitte März Aufnahmen in Berlin, dann zwei Wochen nach Ibiza für die Gesangs-Tracks, von dort bis Mitte April nach London: Mixen, Singen, Saxophon. Seitdem wieder zurück in Berlin zum Feinschliff und kleinen Änderungen. Während der Titeltrack „Feuer und Flamme“ vorweg als Single im Mai auf den Markt kommt, wird das Album erst Ende Juni erscheinen. Uwe weiter: „Wir arbeiten viel mehr Titel aus, als auf der Platte Platz haben; erst im letzten Augenblick entscheiden wir uns dann für die besten.“

Das Bemühen um größtmögliche Professionalität kennzeichnet auch das Programm dieses Nachmittags: Zu drei verschiedenen Park-Motiven schleppt der Meister seine Band. In stundenlangen Fotosessions soll für Nena’85 die wie immer eindringliche-optische Umsetzung im bewährten Rakete-Coverstil gefunden werden. Bis zu 50 solcher Motive braucht Jim nach eigener Aussage, bis er (mehr oder weniger) zufrieden ist.

Diese fast schon penible Sorgfalt gründet sich für Rakete auf die Tatsache, daß bei Nena die stimmige Produkt-Präsentation ungleich wichtiger ist als vergleichsweise bei einer Band wie BAP: „Bei BAP ist es so ein klassischer Aufbau: Die erspielen sich ihre Sympathien, die Leute sind begeistert von den Konzerten – und kaufen sich im Anschluß eine Platte. Bei Nena hingegen ist es so, daß die Leute ins Konzert gehen, um die Hits zu feiern, die sie von der Platte her kennen. Nena ist also in ganz anderem Maße eine Medienband als vergleichsweise BAP!“

Die Fotoarbeit verläuft halbernst, es wird geblödelt, der väterlichen Autorität von Jim Rakete scheinen beim Übermut der Band manchmal Grenzen gesetzt. Hier wird rausgelassen, was sich bei der konzentrierten Studioarbeit angestaut hat. Dämmerung und Hunger beenden die Action im Park, man kehrt zu den Autos zurück. Jaguars und Alfa Romeos zeigen, daß die Band nicht mehr die Pfennige für einen gemeinsamen Hamburger zusammenlegt.

Beim Einsteigen kommt es auch zur „Bürgernähe“, wie Carlo sich auszudrücken pflegt: Sonntagsausflügler bestürmen die Band um Autogramme. Mit Engels-Geduld ertragen die Musiker selbst das Vordringen der Fans in ihr Privatleben: So ist etwa das Treppenhaus von Rolfs Wohnblock voller Graffiti-Botschaften für ihn und die Band; die Kids läuten zu jeder Tageszeit, wollen Autogramme, Fotos oder einfach nur reden. Carlo und vor allem Uwe scheinen allerdings auch privat „Stars“ sein zu wollen: Uwe stolziert ständig so rum, als wäre er gerade auf dem Weg zur Bühne …

Der Heimweg führt über eine Pizzeria zurück ins Spliff-Studio nach Moabit, wo man den fleißigen Reinhold Heil besucht: Die Streicher-Arrangements begeistern alle – und der Produzent nützt die Gelegenheit, um gleich über ein paar Stücke zu diskutieren. Rolf spielt eine neue Drum-Spur für einen Track – und schon ist jeder an der Arbeit bei diversen Nummern.

Am auffälligsten? Das neue Album scheint tanzbarer zu werden, auch die Klangfarben-Vielfalt hat zugenommen. Spürt Produzent Heil einen Erfolgsdruck?

„Er ist präsent im Raum, aber wir schieben das weg, sonst könnten wir nicht konzentriert arbeiten. Glücklichweise können wir uns bei dieser Produktion ein paar Sachen leisten, die früher indiskutabel waren – wie zum Beispiel die Streicher. Das macht einfach Spaß.“

Während die Musiker im Studio weiterbasteln, wechselt Sängerin Nena ins Probenstudio der Band, das im Garagentrakt einer Wohnsiedlung untergebracht ist. Die 25jährige kanadische Pop-Avantgardistin Lisa Dalbello wartet bereits. Deren eigenwilliges Album

mit dem Titel WHO MAN FOUR SAYS (ein Wortpuzzle, das schnell gesprochen wie „Human Forces“, zu deutsch „menschliche Kräfte“, klingt) sorgte bei Insidern für einigen Wirbel – nicht zuletzt dank ihrer musikalischen Zusammenarbeit mit Bowie-Intimus Mick Ronson, der heute als gefragter Produzent in Nordamerika lebt.

Lisa Dalbello schreibt für die neue Nena-LP die englischen Texte; ein wichtiger Faktor, will ein Popmusiker ernsthaft im englischen Sprachraum arbeiten. Denn der Großteil der englischen Texte, die in unseren Breiten entstehen, scheinen für einen Einsatz in USA oder England zu bescheiden in Grammatik und Inhalt. Letztes Beispiel: Opus, „Live Is Life“. Dazu Nena selbst:

„Es war ein Vorschlag unserer amerikanischen Plattenfirma, die LP gleich in zwei Sprachen aufzunehmen. Das letzte Mal hatten wir diese Verlegenheitslösung mit einer Hälfte Deutsch und einer Hälfte Englisch und das war gar nicht gut.“

Auf Lisa ist Jim Rakete gestoßen, er hatte sie in Fernsehshows gesehen. Aus dem Titelsong „Feuer und Flamme“ ist in Dalbellos Bearbeitung inzwischen „Woman On Fire“ geworden; Lisa singt auf diesem Track auch selbst im Chor mit. Aus „Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann“ wurde naheliegend „Any Place, Anywhere, Any Time“. Heute abend geht es um einen Song von Carlo mit dem Titel „Im Haus der drei Sonnen“, in dem von Spielhallen-Junkies erzählt wird. Die englische Entsprechung zum Titel wäre „House Of The Three Lemons“ (Haus der drei Zitronen), was aber offensichtlich beknackt klingt. Daher versucht Lisa in der Diskussion mit der Band, die inzwischen mit einer Flasche Saki unterm Arm nachgekommen ist, ein Gefühl für die Message des Liedes zu bekommen, um dann mit relativer Textfreiheit den Song in eine singbare und sinnvolle englische Fassung zu übertragen. Die Tatsache, daß Lisa kaum Deutsch spricht, erschwert natürlich die Kommunikation.

Zum Problem, Songtexte in eine fremde Sprache zu übertragen, meint Lisa Dalbello anhand eines konkreten Beispiels: „’99 Luftballons‘ vereinte in der englischen Version alle möglichen Fehler: Die Übersetzung war zu wörtlich und der Rhythmus entsprach nicht Nenas Gesangsstil. Wenn man einen Text übersetzt, dann muß man neben dem Inhalt was ja selbstverständlich ist auch auf die Phrasierung, den Stil des Sängers Rücksicht nehmen. Deshalb sitze ich mit Nena viel zusammen und singe mit ihr gemeinsam meine Textvorschläge durch.“

Dalbello, die – wie sie selbst zugibt bis zu ihrer Zusammenarbeit mit der Band außer „99 Luftballons“ absolut nichts von Nena kannte, sieht vor allem in den Songs von Carlo Karges Pop-Qualität, die über das Hitparaden-Mittelmaß hinausgeht. Kann man eigentlich gezielt für Amerika schreiben? Dazu Carlo: „Im Gegenteil! Wenn man denen mit irgendwelchen Sachen kommt, die man selber für besonders amerikanisch hält, dann lachen sich die ja halbtot. Man kann dort doch nur ankommen, wenn man ihnen was gibt, das anders als ihr eigenes Ding ist.“

Laut Lisa gibt es auch in Sachen Image erhebliche Unterschiede zwischen den USA und Deutschland: „Das Image, das Nena in Nordamerika hat, ist völlig anders als hier. In Amerika ist ihr Publikum älter, es sind College-Studenten, denn in College-Radiosendern wurden ihre Songs erstmals gespielt. ’99 Luftballons‘ gilt als glaubwürdiger, gesellschaftskritischer Song, der ein ernstzunehmendes Problem behandelt. Es war deshalb für mich sehr verblüffend, nach Deutschland zu kommen und hier siebenjährige Kids als Nena-Fans zu sehen. „

Eine Meinung, der sich Nena-Manager Jim Rakete allerdings nicht anschließen kann: „Ich seh das nicht so, daß die Zielgruppe bei Nena dermaßen jung liegt. Wenn ich mir die Konzerte anschaue, dann fällt schon auf, daß die Konzertbesucher extrem jung sind. Aber die, die ins Konzert gehen, sind nicht unbedingt identisch mit jenen, die eine Platte kaufen. Der Durchschnitt der Konzertbesucher ist nicht repräsentativ. „

Im Gespräch, im Studio bei der Arbeit, abends in der Pizzeria zeigt sich sehr rasch: Nena’85 hat die Unschuld der ersten Jahre, der ersten Platten verloren: Diese fünf Musiker werden erwachsen und mit ihnen auch ihre Musik. Was aber die kreative Potenz dieser Truppe keineswegs schmälert: Die traumwandlerische Hit-Schreibe mit Instinkt, die kollektiv Unbewußtes der deutschen Teenager auf den Punkt zu bringen scheint, diese Power ist zweifellos nach wie vor vorhanden.

Die Fünf lassen sich von diesem Talent, dessen sie sich inzwischen sehr wohl bewußt sind, allerdings keineswegs stressen, im Gegenteil: Sie sprudeln förmlich über, wie Carlo lachend beschreibt: „Jürgen hat zum Beispiel gerade heute Nacht ein neues Stück geschrieben; aber das ist wohl schon für die übernächste LP.“ Nena’85, das ist keine Teenie-Hype-Kapelle, die zittert, ob die Masche noch für eine Scheibe hält. Diese Band strotzt geradezu vor Selbstvertrauen.

Spät nach Mitternacht geht man schließlich bester Laune auseinander. Im leichten Saki-Rausch blödeln alle in der Hofeinfahrt. Uwe und Carlo wollen noch in eine Kneipe ziehen, doch Nena winkt ab. Sie will morgen um neun Uhr früh schon joggen – und in den wenigen Stunden bis dahin soll auch noch ein dringender Text entstehen: „Ich kann immer am besten unter Zeitdruck schreiben“, meint sie, steigt in ihren alten Puch 600, winkt und. fetzt mit gewagtem U-Turn über den Grünstreifen auf die andere Fahrbahn und davon.