O Sole Rio


Die Sonne und der Zuckerhut von Rio gehören zu den Klischeebildern, die viele europäische Bildungsbürger noch immer mit sich herum tragen. Doch nicht nur Paul Simon hat inzwischen gemerkt, daß das riesige Land am Amazonas ein brodelnder musikalischer Schmelztiegel ist. ME/Sounds-Mitarbeiter Falk Burhenne recherchierte vor Ort.

„Brasilien und seiner Musik fehlt das richtige Marketing. Die Musikszene hier ist so unglaublich vital und vielfältig. Aber dummerweise erfährt außerhalb Brasiliens niemand etwas davon. „Pele, die Fußball-Legende, ist sich deshalb sicher: „Wenn brasilianische Musik so aggressiv vermarktet und exportiert würde, wie es die USA mit ihrer Musik und ihren Filmen praktizieren, wäre unsere Popmusik in der ganzen Welt bekannt.“

Pele hat schon recht: In seiner musikalischen Vielfalt gleicht das riesige Land am Amazonas zwar eher einem ganzen Kontinent — doch für den Rest der Welt ist es nach wie vor ein weißer Fleck auf der ethnokulturellen Weltkarte. Außerhalb Lateinamerikas beschränkt sich der Bekanntheitsgrad brasilianischer Musik auf wenige populäre Leitfiguren — auf die Spitze des Eisbergs. Oder, um im Bild zu bleiben, auf die vertrautesten Blüten eines wild wuchernden, pulsierenden Dschungels aus afrikanischen Rhythmen, Slum-Poesie und — ch das — ausgeklügelten Pop-Visionen.

Brasilien hat eben alles zu bieten: Alleine im nördlichen Bundesstaat Bahia gibt es 10.000 verschiedene “ Rhythmusformen; in Salvador de Bahia, der schwärzesten Stadt außerhalb Afrikas, beschwören jeden Abend zigtausende von Trommeln die Ashanti-Gottheiten. Die trägen braunen Wasser der westafrikanischen Flüsse Senegal, Gambia und Niger wälzen sich nicht 6000 ‚ Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Atlantiks ins Meer, sondern finden ihre Resonanz in den Echos der pluckernden Perkussion in den engen Gassen der Altstadt von Salvador.

Brasilien ist aber nicht bloß Bahia. In der bis zur überbordenden Vitalität wimmelnden brasilianischen Musikszene gibt es Straßensänger und Country-Bands, Rockmusiker und Jazz-Freaks — und auch coole Avantgardisten wie das Ensemble Uakti, das auf selbstkonstruierten futuristischen Instrumenten spielt. Wie die klingen, demonstriert Paul Simon in „Can’t Run But“. dem zweiten Track seines Albums THE RHYTHM OFTHESAINTS.

Da zeigt sich wieder einmal, wodurch brasilianische Musik schließlich doch noch — und wenn auch nur ansatzweise — hinaus in die weite Welt kommt: durch Gastrollen der exponiertesten Vertreter bei den Projekten amerikanischer Stars. Weltfremde Puristen — meistens aus reichen Industrienationen — können es sich leisten, so etwas als Kulturimperialismus zu verdammen. Die brasilianischen Musiker hingegen scheinen geradezu verdächtig scharf darauf, mit ihren berühmten Kollegen zusammenarbeiten zu können.

Paul Simon war ja beileibe nicht der erste, der den Trip nach Rio und Salvador unternahm, um im Urwald der Rhythmen zu wildern. Vor ihm kämpften sich David Byrne, Sting und Peter Gabriel in Brasilien durchs Unterholz der Polyrhythmik.

Und auch diese modernen Ethno-Pilger waren wahrlich nicht die ersten. Seit den 60er Jahren zog es vor allem nordamerikanische Jazzmusiker immer wieder gerne nach Süden, wo sie sich von der Kreativität ihrer brasilianischen Kollegen anstecken ließen und wieder Kraft für den harten Alltag im kühlen Norden tankten. Und sie holten im Gegenzug die Brasilianer ins Rampenlicht.

So brachten Stan Getz und GHarlie Byrd 1962 die Bossanova-Welle ins Rollen, in deren Folge brasilianische Musiker von Astrud Gilberto über Antonio Carlos Jobim bis hin zu Milton Nascimento und Hermeto Pascoal das internationale Publikum immer wieder in ihren Bann schlugen.

Nascimento, die „Stimme der tausend Töne“, arbeitete seinerzeit schon mit Sting zusammen, und er singt auch auf Simons Album. Skeptiker setzen das gleich mit der kolonialen Vergangenheit des Landes: Waren seinerzeit Mahagoni-, Palisander- und Brasilholz, Gold und Diamanten, Zuckerrohr, Kaffee und Kautschuk die gewinnträchtigen Handelswaren der ohne Rücksicht auf Menschenleben auf schnellen Profit fixierten spanischen und portugiesischen Eroberer, so steht heutzutage Brasiliens reichhaltige und lebendige Musikkultur den Ethno-Touristen jeglicher Couleur zur Plünderung offen.

Deshalb kann man lange darüber diskutieren, ob David Byrne mit seinem Album REI MOMO, das er mit karibischen und brasilianischen Versatzstücken garnierte, als auch mit der Leinwand-Dokumentation seines Trips nach Bahia. die er unter dem Titel Je Aive (The House Of Life)“ dem afrobrasilianischen Kult ‚Candomble‘ widmete, dem Thema musikalisch und visuell ernsthaft gerecht wird. Oder ob Paul Simon, die Inkarnation des musikalischen Globetrotters, eher doch Anlaß zum Zweifel gibt.

Und schließlich stammt ja auch der Lambada aus Sao Salvador de Bahia de Todos Santos, der schwärzesten Stadt Brasiliens, wo sich dieser Tanz schon vor vielen Jahren entwickelt hat. Salvador wurde 1551 von Amerigo Vespucci entdeckt und war jahrhundertelang der Anlaufhafen für die Segelschiffe aus Afrika, die im Lauf der Zeit fast fünf Millionen Sklaven nach Brasilien brachten. Und nach wie vor ist dieser Schmelztiegel aus indianischem, europäischem und hauptsächlich afrikanischem Kulturgut der entscheidende Impulsgeber für die brasilianische Musik wie für die Literatur.

Den archaischen Pulsschlag von Salvador setzen die afrobrasilianischen Rhythmen der 18köpfigen „Grupo Cultural Olodum'“ in unüberhörbare Manifestationen purer und urwüchsiger musikalischer Kraft um. Das erkannte auch Paul Simon, der der Gruppe mit seiner Single ,.The Obvious Child“ Respekt zollte. Simon weiß auch, daß „diese Musiker ein ausgeprägtes politisches Bewußtsein besitzen und damit nicht hinter dem Berg halten. Sie setzen sich in ihren Texten mit der Situation der Schwarzen in Brasilien, mit dem Rassismus und der sozialen Apartheid‘ kritisch auseinander. „

Die Grupo Olodum ist eine der populärsten brasilianischen Formationen, aber sie hält trotzdem noch immer die Tradition in Ehren. Jedes Jahr beim Carnaval do Bahia ziehen die Lokalmatadoren der Region auf riesigen Lautsprecherwagen durch die Straßen von Salvador und heizen den ekstatischen Tänzern auf den Straßen gehörig ein. Diese Lautsprecherwagen sind eine Spezialität von Bahia — fahrbare Bühnen, „Trio Eletricos“ genannt, die bis zu 25 Tonnen schwer, an die 18 Meter lang und fünf Meter hoch sind. Die mobilen Discos haben eine gewaltige akustische Reichweite: Bis zu 40.000 Watt donnern aus den Sound-Systems und lassen auch noch in fünf Kilometern Entfernung jeden Lambada-Tänzer lustvoll vibrieren.

Und die Trommler von Olodum sind die Kings dieser Szene. Ihre Platten erreichen Millionenauflagen, und auch im Ausland nimmt man zunehmend Notiz von der Truppe — nicht zuletzt dank Paul Simon und THE RHYTHM OF THE SAINTS. Simon hat die Spiritualität der brasilianischen Musik und die Kraft ihrer afrikanischen Elemente sofort erkannt: „Es war ein gewaltiger Sound. Sie spielten live auf einem Platz in der Stadt, und ich fragte, ob ich sie aufnehmen dürfe. Da es in Salvador kein Studio gibi. machten wir eine Session auf der Straße. Das Band nahm ich mit nach New York, denn diese Musik faszinierte mich. „

Simon hin. Ethno-Tourismus her — wenn ein amerikanischer Musiker mit Hilfe brasilianischer Kollegen eine Platte macht, bleibt das trotzdem immer noch ein amerikanisches Unternehmen. Aber vielleicht tragen solche Projekte wenigstens dazu bei, daß

die Plattenbranche den Fans exotischer Musik die Chance bietet, ohne viel Sucherei direkt an den echten Stoff zu kommen.

Und immerhin tut sich ja in jüngster Zeit auch drüben in Deutschland einigem Kenner der brasilianischen Szene wie der Hamburger Journalist Rainer Skibbe oder der altgediente Latino-Freak Claus Schreiner veröffentlichen schon seit geraumer Zeit auf ihren Labels die eine oder andere Perle aus Brasilien (siehe Kasten Seite 14).

Die Kraft und Intensität dieser Musik zog schon vor Jahrzehnten jeden Besucher in Bann. Denn wie kaum in einem anderen Land spiegeln sich vor allem in der traditionellen Musik Brasiliens Gefühle — angenehme wie negative — und Probleme des täglichen Lebens wider: Freud‘ und Leid, Liebe und Tod. Arm und Reich — das sind die Kontrastmittel, die der brasilianischen Musik ihre Ausstrahlung verleihen.

Trendsetter Miles Davis erkannte diesen scheinbar unerschöpflichen Nährboden schon vor Jahrzehnten und bediente sich der Ressourcen ebenso ungeniert wie genial — auch er also ein hemmungsloser Kulturimperialist? Jedenfalls verursachte er zusammen mit dem brasilianischen Percussionisten Airto Moreira und dessen Frau, der Sängerin Flora Purim, in den USA einen wahren Steppenbrand. Ihm folgten andere Amerikaner wie Chick Corea und AI Di Meola, Carlos Santana und Keith Jarrett. Weather Report und Pat Metheny.

Und solche Kooperationen verlaufen letztlich nicht auf Einbahnstraßen im Nord-Süd-Gefälle. Pat Metheny beispielsweise orientierte sich stilistisch wie musikalisch am brasilianischen Gitarristen Toninho Horta, aber angloamerikanische Musiker beeinflußten umgekehrt natürlich auch ihre Latino-Kollegen. So ließ sich Antonio Carlos „Tom“ Johim, einer der größten brasilianischen Komponisten, schon Ende der 50er Jahre vom amerikanischen Cool Jazz inspirieren. Mit seinem Lied „Desafinado“ (Verstimmung) kreierte er 1959 den Bossanova, eine Variante des Samba.

Jobim schrieb auch den Welterfolg „The Girl From Ipanema“ („A garota de Ipanema“) und verhalf damit Astrud Gilberto und ihrem amerikanischen Förderer Stan Getz zu internationalem Ruhm. Das Restaurant aber, in dem Jobim zusammen mit dem Textdichter Vinicius de Moraes den Welthit schrieb, ist inzwischen zu einer mittelmäßigen Touristen-Kneipe verkommen. Und „Tom“ lebt jetzt, dank seiner reichlich und unversiegbar sprudelnden Tantiemen gut abgepolstert, in einem feinen Appartement in New York. Das Girl von Ipanema pflegt indessen seine Neurosen beim Psychotherapeuten auf der Couch.

Neben Jobim zählen die Komponisten und Gitarristen Joao Gilberto und Baden Powell, der heute in Hamburg lebt, zu den alten Heroen, die schon vor Jahrzehnten internationale Anerkennung fanden.

Eine ganze Reihe jüngerer Vertreter der Jvlüsica Populär Brasileira“ wurde über Brasiliens Grenzen hinaus zu international gefeierten Stars — darunter Gilberto Gil, Caetano Veloso und Jorge Ben aus Bahia, Milton Nascimento aus Minas Gerais, Chico Buarque und Joao Bosco, der Dreadlock Djavan, die schrille Baby Consuelo, die stille Beth Cavalho, Maria Bethania sowie der Schnulzensänger Roberto Carlos — wer kennt die Namen, wer zählt die Platten?

Die Liste ließe sich auch im Jazz fortführen — mit Egberto Gismonti und Nana Vasconcelos, Wagner Tiso und Hermeto Pascoal, um nur einige zu nennen. Aber wer will schon endlose Namenslitaneien lesen?

Auf jeden Fall aber findet auf der Produktionsebene oft ein interkultureller Austausch statt. Auf Djavans letzter Platte OCEANO wirkte beispielsweise Paco de Lucia mit; Pat Metheny und Randy Brecker gaben sich auf Toninho Hortas Album MOONSTONE ein Stelldichein. Und der New Yorker Gitarrist Arto Lindsay, dessen Familie übrigens aus Brasilien stammt, produzierte Caetano Velosos LP ESTRANGEIRO.

Es läßt sich nicht vermeiden: Wer in Brasilien lebt, wird auf Schritt und Tritt mit Musik in all ihren üppig wuchernden Spielarten konfrontiert. Jede „Lanchonete“, die brasilianische Variante der deutschen Imbißbude, beschallt die Nachbarschaft mit heißen Rhythmen. Aus jedem Personenwagen dröhnt’s, und aus allen offenen Wohnungsfenstern wehen den lieben langen Tag die Klangfetzen zwischen Samba und Saudade, der quälenden Sehnsucht, die vor Jahrhunderten von den Portugiesen in die Neue Welt exportiert wurde. Und das alles wird übertönt vom Motorenlärm der Busse und Lastwagen, und wenn’s mal eine Pause gibt, drängen sich die Stadtzikaden mit ihrem penetranten Zirpen wieder ins Bewußtsein. Das Wort Zimmerlautstärke scheint im brasilianischen Wortschatz sowieso nicht zu existieren. 0 sole rio.

Und deshalb reicht ein Bummel durch die Gassen von Salvador, um das ganze Spektrum brasilianischer Radiosender kennenzulernen: „Transamerica“ bringt die neuesten internationalen Charts, „Globo“ spezialisiert sich auf Jazzrock, „Fluminense“ auf Rockmusik. Samba gibt’s auf der Frequenz von „Topical“; „93 FM“, „Capital“ und „Imprensa“ bevorzugen Musica Populär Brasileira; „Manchete“ hingegen setzt auf Funk. So geht das auf UKW quer durch den musikalischen Gemüsegarten — 20 Radiostationen senden, was das Herz begehrt, mit speziellen Programmen, die ganz auf den individuellen Geschmack der Hörer zugeschnitten sind.

Und neuerdings gibt es auch in Brasilien einen Ableger des amerikanischen Musikkanals MTV, der nun fürs erste auch das Bedürfnis nach visuellem Musikkonsum stillt — wogegen sich auch einiges sagen ließe, wenn man schon meint, auf Paul Simon rumhacken zu müssen. Vor dem MTV-Start gehörte die Glotze fast ausschließlich den sogenannten „Novelas“, den allseits beliebten Fernsehserien, denen die ganze Familie über Monate hinweg fasziniert folgt; jeden Abend mutieren die brasilianischen Temperamentsbündel für 60 Minuten gemeinsam zu einem ergriffen jedes dramatische Ereignis auf dem Bildschirm verfolgenden Volk von Couch-Potatoes.

Auch die Plattenbranche profitiert nicht schlecht von den TV-Opern. Denn Musiker wie Gilberto Gil oder Djavan, Caetano Veloso oder Ed Motta, die brasilianische Antwort auf Curtis Mayfield, verkaufen nach einem Gastspiel im Fernsehen gleich noch mal so viele Platten. Daß sich immer mehr junge Musiker wie Ed Motta dabei an britischen und amerikanischen Vorbildern orientieren, verwundert deshalb nicht. Schließlich ist MTV nur das letzte Glied in der Kette der globalen Kulturindustrie, die längst auch Brasiliens Kunst-Kommerz m die große Familie des Entertainments eingebunden hat.

Und natürlich verkaufen sich auch internationale Produktionen in Brasilien bestens — mit steigender Tendenz übrigens. Platten von Phil Collins und Sinead O’Connor, von Bon Jovi und Technotronic gehen weg wie warme Semmeln. Auch Konzerte von Superstars wie Eric Clapton oder Paul McCartney, David Bowie oder Jethro Tüll sind in der Regel gut besucht, wenn nicht sogar ausverkauft. Selbst David Byrne füllte bei seiner Tournee die Säle, aber das lag vielleicht ein bißchen auch an seiner brasilianischen Sängerin Margareth Menezes, die ihm immer dann aus der Patsche half, wenn sein Latin-Spektakel musikalisch aus den Fugen zu geraten drohte.

Da erstaunt es auch nicht, daß sich Ed Motta, der bis jetzt zwei Platten veröffentlichte, unverhohlen zu seinen Vorbildern bekennt: Stevie Wonder, Marvin Gaye, Curtis Mayfield und Prince. Und der 30jährige Carioca Renato Russo, Sänger der Gruppe Legiao Urbana, die gerade auf dem ersten Platz der brasilianischen Charts steht, bewundert Jim Morrison und Jimi Hendrix.

Doch wie sehr sich diese junge Garde der populären brasilianischen Musik auch an internationalen Vorbildern orientiert — den ureigenen und unverkennbaren afrobrasilianischen Groove streift kein Exponent völlig ab.

So scheint es letztlich also nur noch eine Frage der Zeit, bis Peles Wunschtraum von der internationalen Vorrangstellung der brasilianischen Musik irgendwann doch noch Wirklichkeit wird. Es ließe sich wohl darüber streiten, ob das nun durch Ethno-Touristen wie David Byrne und Paul Simon gefördert wird, oder ob es durch die zunehmende Umorientierung der jungen brasilianischen Popmusiker ohnehin geschieht. Aber diese Frage ist dann letztlich doch nur noch von akademischem Interesse, solange die dumpfen afrikanischen mein in den engen, feuchtheißen Gassen von Salvador de Bahia noch nicht verstummen.