Prog Rock


Die Erben von ELP, Yes und King Crimson machen mobil. Nach Jahren im Untergrund etabliert sich weltweit eine neue Progressive-Rock-Szene.

Symphonische Synthie-Kaskaden, kilometerlange Gitarrensoli, Vokaleinlagen, in denen der Sänger beweist, daß er mit seinem Stimmumfang sowohl Kate Bush als auch Ivan Rebroff imitieren kann. Und alles verpackt in Songs, die nicht selten zwanzig Minuten oder länger dauern. Die Rede ist nicht vom Bombast-Sound der 70er Jahre, sondern von einem Genre, das sich langsam und fast unmerklich wieder etabliert. Der Progressive Rock, kurz: Prog-Rock, hat sich vor allem in Japan und Europa – eine neue, an einen Geheimbund erinnernde Szene erschlossen, die mit eigenen Plattenlabeln und -laden, Fanzines und Festivals aufwarten kann. Mit Bands wie den amerikanischen Dream Theater oder den britischen IQ gibt es längst auch Acts, die nicht nur eingeweihten Szene-Leuten bekannt sein dürften, und selbst verdiente Genre-Saurier wie King Crimson fühlen sich anno 1995 berufen, wieder in den Ring zu steigen. Federführend bei der Ausbreitung der neuen Lust am Bombast ist allerdings der holländische ‚Symphonic-Info‘-Verlag. Monatlich erscheint eine SI-Zeitschrift, in der beinharte Fans mit den aktuellen News der Szene versorgt werden. SI-Chef Willebrod Elsing betreibt daneben noch eine Konzertagentur und ein eigenes Label. Seit 1988 sind 70 progressive Platten für SI produziert worden, deren Urheber illustre Namen wie Cyan, Aragon und Everon tragen. ‚Paradoxes‘, das Debütalbum letztgenannter, ließ sich allein in Holland 5000 Mal absetzen – bislang die auflagenstärkste Veröffentlichung auf SI. Die führende europäische Prog-Rock-Band aber ist IQ aus England, die mittlerweile fünf Alben veröffentlicht haben. Ihre ersten beiden Werke fanden immerhin fünfzigtausend Interessenten. Typisch für die Szene: Die meisten IQ-Platten werden nicht von Mensch zu Mensch über die Ladentheke geschoben, sondern mittels Postversand veräußert. Die Fanzines bieten den Freunden des komplizierten Sounds monatlich Listen mit neuen Prog-CDs aus aller Welt an. Wer das Mailorder-Angebot in Kauf nimmt, muß jedoch mit dem Katze-im-Sack-Effekt leben, denn Prog-Rock taucht bislang weder im Radio noch im Fernsehen auf: Die Songs sind schlichtweg zu lang, was die Massenwirksamkeit naturgemäß beeinträchtigt. Um dennoch den Überblick über die neuesten Veröffentlichungen zu bewahren, behilft sich die Szene mit Sampler-Kassetten und Mundpropaganda. Der typische Prog-Rocker ist ohnehin eher Sammler als Jäger, sitzt beim Sound der sirupdicken Keyboard-Akkorde über seiner naturwissenschaftlichen Magisterarbeit oder füttert einsam seine Zimmerpflanzen. Prog-Rocker sind mehrheitlich männlichen Geschlechts. Sie haben sich vom Metal abgewandt, weil der ihnen zu brachial oder zu poppig geworden ist. Oder sie sind älteren Semesters und träumen von den Zeiten, als ihre Lieblinge noch Sporthallen füllten und Plattenauflagen in Millionenhöhe erreichten. Die Ursprünge des progressiven Pomp-Rocks lassen sich bis Anfang der 70er Jahre zurückdatieren, als Bands wie Emerson, Lake & Palmer, Yes, King Crimson, Van Der Graaf Generator und Genesis mit Alben debütierten, auf denen sie weit entfernt vom proletarischen Rock’n’Roll mit klassischer Musik und Instrumenten wie Mellotron, Laute oder Querflöte experimentierten. Noch heute sind dem wahren Prog-Rocker Alben wie Yes‘ ‚Close To The Edge‘, King Crimsons ‚In The Court Of The Crimson King‘ oder Genesis‘ ‚Foxtrot‘ heilig. Die damals vor allem in England betriebene Akademisierung der Pop-Musik, in der nur noch Musiker eine Chance hatten, die eine hohe Virtuosität an den Tag legten, half jedoch auch indirekt mit, dem Punk den Weg zu ebnen. Vor allem das junge Publikum war von barockem Bombast und selbstgerechten Schöngeistern zunehmend genervt, weshalb die Welle der -genialen Dilettanten den Prog-Rock ab 1977 aus den Charts spülte. ELP und Yes veröffentlichten fortan nur noch sporadisch neue Alben, King Crimson und Genesis veränderten ihren Sound, Van Der Graaf und freie Prog-Rock-Gründerbands wie Gentle Giant, Gryphon, Starcastle oder die deutschen Triumvirat lösten sich frustriert auf.

Erst 1982 konnte wieder eine Band in der Tradition der frühen Genesis auf sich aufmerksam machen: Marillion mit den charismatischen Sänger Fish griffen wieder auf keyboardlastige, komplex arrangierte Strukturen zurück und verwendeten surreale Masken und Outfits für Ihre Bühnenshows. Mit der Single ‚Kayleigh‘ und dem Konzept-Album ‚Misplaced Childhood‘ kehrte der Sound der Siebziger zurück, und nicht nur Ewiggestrige, sondern auch junge Neo-Proggies jubilierten. Britische Bands wie Pallas, Twelfth‘ Night, Pendragon und eben IQ schlossen sich dem Mini-Trend der frühen Achtziger an. Pallas und IQ unterschrieben schließlich sogar kurzlebige Deals mit Major-Companies, ohne jedoch bedeutende Verkaufszahlen zu erzielen. Es reichte immerhin dafür, daß Prog-Fans der ersten Stunde die vor ihren jüngeren Geschwistern versteckten Yes-LPs wieder aus dem Keller holten und sich inbrünstig zu ‚Close To the Edge‘ (20 Minuten) treiben ließen.

Zum neuen Zentrum dieser Refro-Szene avancierte ab Ende der achtziger Jahre Holland, das mit Bands wie Ekseption und Focus ohnehin eine eigene Prog-Rock-Tradition vorweisen konnte. Nicht nur musikalisch, sondern auch optisch wurde die Zeichensprache der Vorväter übernommen. So zierten die meisten Cover der neuen Bands Fantasy-Gemälde im Stile Roger Deans, der seinerzeit die Yes-Hüllen mit seinen Vorstellungen von mystischen Zauberländern überfrachtete: ‚Der Nebel von Avalon‘ ließ grüßen, und die Leser von Tolkiens Kult-Märchen ‚Der Herr der Ringe‘ sahen hier ihre Träume bildhaft umgesetzt.

Doch der Bedarf nach Fluchten in Mythologien und Phantasie-Landschaften scheint immer noch ungebrochen: Für manche Neo-Proggies gibt es offenbar nichts Schöneres, als sich bei Fantasy-Rollenspielen per Computer in einen Hobbit oder einen schwarzen Ritter zu verwandeln und dabei verzückt Nik Barretts Pendragon oder dem Everon-Opus ‚Paradoxes‘ zu lauschen. Die Pflichtlektüre des geneigten Users: Seit 1992 gibt es auch eine deutsche Ausgabe des Sl-Magazines, das 1993 in ‚Empire‘ umbenannt wurde. Interviews mit Genesis, Rush, Mike Oldfield, Fish, Peter Hammill, Elöy, Asia, Dream Theater oder Queensryche verdeutlichen das Spektrum dieser Stene. Hauptsache, der Song klingt irgendwie nicht von dieser Welt, läßt das Tanzbein stillstehen und beschäftigt sich textlich nicht mit der ach so banalen Realität. ; Das dienstälteste deutsche Fanzine ‚Sophisticated Rock Magazine‘ steigt gerade – nach siebenjähriger Untergrundarbeit auf eine monatliche Erscheinungsweise um: Ein Indiz dafür, daß die Prog-Rock-Szene jetzt nach Höherem strebt und aus dem stillen Kämmerlein ausbrechen will. Auch die Konzertagenturen trauen sich langsam, einst schwer vermittelbare Bands auf die Reise zu schicken. So gibt sich Thomas Waber von Inside-Out Music optimistisch: „Der bisherige Erfolg gibt uns Recht. In Deutschland warten viele Fans nur darauf, Prog-Rock live zu erleben.“

Für diese kühne Annahme spricht der Erfolg eines Konzerts, das am 12.Juni 1993 im niederrheinischen Kleve stattfand, als IQ ihr fünftes Studiolabum ‚Ever‘ live präsentierten. Am Erstverkaufstag des Albums strömten die Fans nicht nur aus Deutschland und dem angrenzenden Holland, sondern auch aus Frankreich, Schweden, Dänemark und der Schweiz an den Niederrhein. Aber nicht nur in diesen Ländern trauen sich die Progressives langsam aus den Übungsräumen: Immer mehr CDs von japanischen Bands wie Outer Limits, Novella und Vienna erreichen den deutschen Markt, aus Brasilien melden sich Quaterna Requiem, aus Italien Bands mit magisch anmutenden Namen wie Asgard, Black Jester und Leviathan, aus England Jadis, Galahad und Landmarq. Mit Cairo und Enchant hegt auch die amerikanische Westküste progressive Hoffnungen, und Australien schickt mit Aragon und ihrem imposanten Sänger Les Dougan eine exzentrische Ausnahme-Band ins Rennen. Spezial-Label wie SI, Musea aus Frankreich oder WMMS aus Deutschland haben in den letzten Jahren insgesamt mehr als 200 CDs auf den Markt geworfen – wovon die meisten verkaufsmäßig allerdings an der 2000er-Marke scheiterten. Doch jedenfalls bebt die Szene: Die deutschen Ur-Progger Eloy veröffentlichen immer mal wieder

ein neues Album, und auch junge Bands wie Violet District und Chandelier trauen sich langsam an die Veröffentlichung ihrer Breitwand-Epen. Selbst Marillion-Gründer Mick Pointer hat offenbar mitbekommen, daß sein Sound wieder gefragt sein könnte, und kehrt mit seiner Band Arena in den Kampf um Anerkennung und Marktanteile zurück. In diesem Fall bewahrheitet sich also eine alte Regel des Showgeschäfts: „They always try to comeback“.