ME Liste

Ranking: Die besten Alben von Blumfeld

Musik für eine andere Wirklichkeit: Ein Blick auf den Backkatalog von Blumfeld.


Musikexpress Badge
Empfehlungen der Redaktion

BLUMFELD – COMPLETE ALBUM SERIES (1992–2006): Das ist Musik, die niemals stehen bleibt. Zwischen disruptivem Noise und supermelodiöser Geste: Das Gesamtwerk der Hamburger als Vinyl-Neuauflage.

Wenn man jetzt diese sechs Alben am Stück auflegt, wenn man mit zeitlichem Abstand also durch all diese verschiedenen Musiken spaziert, dann ist das auch ein Gang durch Biografien, zuerst durch die Jochen Distelmeyers, wohl aber auch durch die eigene.

Man tariert auf dem Debüt ICH-MASCHINE ★★★★★★ (1992) supersmart diskutierte Befindlichkeiten aus, einen „Aufschrei vereinsamter Intelligenz“ nannte Michael Reinboth das seinerzeit im Musikexpress. Man verteilt aber auch Schellen an das neue Einheitsdeutschland, hat „Tinte für zwanzig Bücher im Bauch“.

Der Sound der Band ist reduziert, Distelmeyers hochaufgeregter (Sprech-)Gesang, dazu seine Gitarre, die nervösen André Rattay und Eike Bohlken an Schlagzeug und Bass. Das ergibt Musik, die sich schwer einordnen lässt. Punk ist das nicht, Deutschrock erst recht nicht. Was ist es denn dann?

L’ETAT ET MOI

L’ETAT ET MOI ★★★★★★ setzt zwei Jahre später dieses Wirkprinzip, dieses Dabeisein, aber doch Danebenstehen schon mit dem Coverbild, eine Parodie auf das Elvis-Album 50,000,000 ELVIS FANS CAN’T BE WRONG, fort. Distelmeyer spricht im wortspiel- und bezugsreichen Spoken-Word-Titeltrack von Gott und dem Alltag der Figuren, von Rock’n’Roll und dem roten Faden, von Blut und Boden und dem Keller voller Leichen Europas.

Der Track ist, wie das gesamte Album, ein Bam-Bam-Bam, eine Referenzmaschine, ein eigenes Sprachland, manchmal beinahe ein Rap, dessen Einzelteile man sofort genauerer Untersuchung unterziehen möchte, ein wahnsinniges Kompendium aus Wort, das an anderer Stelle von einer Musik begleitet wird, die ihre Kraft oft aus der Wiederholung schöpft, die Feedbackschleifen und Dissonanzen setzt, Postcore und Pop und Kraut verbinden sich zu einem Sound, der mit etwas Abstand zärtlicher und offener klingt als damals und, etwa in YOU MAKE ME mit seiner Akustikgitarre oder in DRAUSSEN AUF KAUTION, vieles von dem, was die späteren Alben prägte, schon andeutet.

OLD NOBODY

Die scheinbare Zärtlichkeit, die ab OLD NOBODY ★★★★★ (1999) in die Arbeit der Band Einzug hielt, erschreckte damals einige Fans. Die Idee, dass da jemand aus einem linken Underground-Verständnis heraus plötzlich Songs spielte, die zumindest in Sachen klanglicher Ästhetik an Schlager andockten (was immer mehr Behauptung als Tatsache war, eher ist doch an ambienten Pop zwischen FREE DESIGN und DAVID SYLVIAN und an House zu denken), schien unerhört. Diese Bruchlinie im Blumfeld-Kosmos, zumindest als solche wurde sie seinerzeit wahrgenommen, ist in der Rückschau vielleicht noch zu sehen, sie ist aber zu einer sauber verheilten Narbe geworden, die dem Gesamtkörper ästhetischen Mehrwert gibt.

Von „neuen Möglichkeiten“ singt Distelmeyer im deftig rhythmisierten, aber dennoch eigenartig hüftsteifen TAUSEND TRÄNEN TIEF. Und aus dem „Ich weiß gar nicht, wie das gehen soll, sich vereinigen“ der Frühneunziger (LASS UNS NICHT VON SEX REDEN auf ICH-MASCHINE) wurde ein „Küss mich dann wie zum ersten Mal“. Kurzum: Es ist kein Mittzwanziger, der hier singt, sondern ein erwachsener Mann, der aber an anderer Stelle durchaus noch Bock auf Crazyness hat: MEIN SYSTEM KENNT KEINE GRENZEN arbeitet mit der Dissonanz der frühen Jahre. Und spätestens, wenn ein (Kinder?-)Chor hier den Slogan rausbrüllt und Distelmeyer vom „Pferd auf dem Flur“ singt, laufen alle der gerne bemühten Münchener-Freiheit-Vergleiche ins Leere.

Ein Bam-Bam-Bam, eine Referenzmaschine, ein Sprachland, dessen Einzelteile man genauerer Untersuchung unterziehen möchte.

TESTAMENT DER ANGST

Zwei Jahre später folgte TESTAMENT DER ANGST ★★★★★, das die leichte Entspannungspolitik, den scheinbaren Rückzug ins Private im Hause Blumfeld wieder kassiert. Am deutlichsten wird das in DIKTATUR DER ANGEPASSTEN: Ohne Verschlüsselungen und zu hochdramatische Klaviermuster arbeitet sich Distelmeyer hier an den Umständen ab, an den „Lügen, Lügen, Lügen“ und denen, die sie schlucken.

JENSEITS VON JEDEM

In den Folgejahren schiebt sich verstärkt Folk in die Musik von Blumfeld. Wobei: Was die Band nun spielt, ist lediglich so eine Art Folk, eher angefolktes Kunstlied, das seinen Höhepunkt im Titeltrack von JENSEITS VON JEDEM ★★★★★★ (2003) erreicht. Distelmeyer singt hier von Gauklern und Ganoven, von Clowns und Helden, von Zampano, Kleopatra, aber auch vom CLUB OF ROME und dem Retortenkind. Er singt sein Lied, warum, ist rasch erklärt: „Das ist mein Leben.“ Das Album wurde damals eher zurückhaltend aufgenommen, auch weil bisweilen nah am noch einmal direkteren Slogan operiert wird. Der ist aber immer blitzgescheit gesetzt. Aus der zweiten Phase der Band beinhaltet dieses Album einige der bestgealterten Stücke, etwa das abschließende DIE WELT IST SCHÖN.

Blumfeld: VERBOTENE FRÜCHTE

Das letzte Album VERBOTENE FRÜCHTE ★★★★★ mied 2006 schließlich den Diskurs vollumfänglich und lud stattdessen zu einer Fahrt ins Grüne. Die Platte klingt ziemlich genau so, wie es das Cover zeigt, eine Illustration von Maria Sibylla Merian. Nicht jede Naturbeobachtung geht auf, aber da ist dieser herrlich irritierende Topsong, der APFELMANN, ein kleiner Boogie über einen, richtig, Apfelbauern. „Habt ihr Bock auf Obst“, fragte Distelmeyer auf Konzerten damals gerne, manchmal schrie er auch „Obst ist Kult“ in das Publikum, so wie er sich über die Dekaden ohnehin einen ganz interessanten, von tatsächlicher Jugend losgelösten Jugendslang für öffentliche Auftritte draufschaffte.

Amazon Music Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Amazon Music
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Anzeige: Jetzt kostenlos Amazon Music Unlimited testen.

Diese sehr standardisiert, fast baukastenhaft wirkende Bühnensprache ist das glatte Gegenteil von den schroffen Satzfelsen, mit denen Distelmeyer seine Laufbahn einmal begann. Vielleicht ist sie aber auch deren Konsequenz in einem Sinne von: Alles ist eben Sprache. Und wie man die durchdringt, wie man sich in der zurechtfindet, was man in ihr liest, auf all diese Fragen muss man als Hörer schon selbst eine Antwort finden. Blumfeld lösten sich 2007 auf. Distelmeyer veröffentlichte 2009 noch ein Soloalbum, seitdem gab es keine neue (neu im Sinne von originäre) Musik mehr von ihm. Kann sein, dass was im Busch ist, manche raunen so etwas.

Bis dahin hat man mit diesem umfangreichen Katalog und den gelegentlichen Touren der als Live-Act wiederauferstandenen Band mehr als genug zu tun. Alle Alben kommen in Gatefold-Covern und mit abgedruckten Texten.

 

Weitere Highlights