International Music
ENDLESS RÜTTENSCHEID
Timeless Melancholic Music/Bertus ( VÖ: 6.9.)
Die Meister des Unbestimmten schicken Indie-Hymnen in endlose Hallräume und erreichen neue Tiefen der Erkenntnis.
Es hallt. Hallräume, die mögen International Music. Sie sind so weit, so wahnsinnig weit, diese Hallräume, schier endlos. So wie Rüttenscheid – eben nicht. Rüttenscheid ist ein Stadtteil von Essen. Essen ist die Stadt, aus der International Music stammen. Die Stadt, in der Pedro Goncalves Crescenti, Peter Rubel und Joel Roters ihre Band im Jahr 2015 gegründet haben. ENDLESS RÜTTENSCHEID, das dritte Album des Trios, markiert also schon im Titel, es geht um: da wo ich herkomm, um Herkunft, ums Zuhause, vielleicht sogar um Heimat. Aber natürlich nicht so schnell, nicht so simpel. Wir sind schließlich bei International Music, den Meistern des Unbestimmten, immer auf der Suche nach (wir erinnern uns an das Vorgängeralbum ENTENTRAUM und den Übersong „Insel der Verlassenheit“) der „Höhle der Vernunft“, von der man sich sagt, sie „sei wunder-, wunderschön“.
AmazonDer Weg dorthin aber führt durchs Unbewusste. Dort gräbt ENDLESS RÜTTENSCHEID tief im kollektiven Gedächtnis. In den Hymnen, die sie in die endlosen Hallräume schicken, die Jahrzehnte vor ihnen schon Kraut- und Psychedelic-Rocker geöffnet haben, schwellen die Harmoniegesänge aus den drei Stimmen an, werden mächtig und übermächtig und dann plötzlich ganz schwerelos und heben ab – und mit ihnen die Worte, die plötzlich eine ganz andere Bedeutung bekommen können.
Aber erst mal wieder zurück auf den Boden, zurück nach Rüttenscheid: ENDLESS RÜTTENSCHEID ist das dritte Album von International Music, und das dritte, das in diesem Magazin zum Album des Monats gekürt wird. Aber auf dem Cover inszenieren sich die drei ganz anders als die Indie-Helden, die sie sind. In dunklen Anzügen und mit leisem Lächeln, arrangiert in einem Dreieck, erinnern sie an die Sänger und Musiker auf den Alben, die man in der Plattenecke der ersten italienischen oder türkischen Kramläden durchblättern konnte.
Ja, sie singen Liebeslieder, die aber dem, der sie lesen will, von mehr erzählen als von der Liebe.
Sie verweisen auf die von Migration geprägte Geschichte des Ruhrgebiets, auf ihre Heimat. Und wie diese Sänger singen sie Liebeslieder, die dem, der sie lesen will, von mehr erzählen als von der Liebe zwischen Mann und Frau. Beispiel: „Guter Ort“ beschreibt eine Fernbeziehung, aber eben auch das Leben zwischen den Kulturen, das Nicht-richtig-Ankommen, sich gleichzeitig aber entfremden, das der ersten Migrantengeneration widerfuhr. „Hier ist ein guter Ort zu leben, hier ist keiner, der lang bleibt“, singen International Music, „eine Zwischenstation, die lange war und länger wird, von mir zu Dir, von hier zu Dir.“
Während also die Gitarren den Rock’n’Roll der späten Fifties, aber bisweilen auch arabeske Melodielinien imitieren, stößt man überall auf Zeilen, die mehr erzählen, und Klänge, die verschiedene Namen tragen. „Es kann wohl sein, dass der Himmel sich öffnet, und sie lassen mich rein“, heißt es im Titelstück.„Halber Weg, ganzes Ziel / Weniger ist mehr, nichts ist viel“, singen sie in „Mont St. Michel (Reprise)“. Die „Kieselwege“ führen einerseits in den Keller des Eigenheims in der Vorortsiedlung, wo die Teenagerparty steigt, aber auch durch dieses neue, seltsam aufgeräumte Land, in dem selbst die Kieselsteine streng geordnet erscheinen.
Das einleitende Lick von „International Heat“ könnte schräger Surfsound sein, aber auch orientalische Reminiszenz. Und in „Fehler“ verstellen Bäume und Zäune den Blick auf die Landschaft, bevor ein Schüttelreim von nachgerade Distelmeyer’scher Größe das Dilemma zwischen Hier und Dort und anderswo auflöst: „Ich hab keine Sorgen mehr / Melodien zieh’n vor mir her.“ Ja, es hallt lange nach.
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