Stammesmusik für den Planeten Erde
Zurück zu den Wurzeln: Björk sucht nach einem globalen Beat für den human tribe {'„eine Utopie!') und stattet in Reykjavik ihren ersten drei Solo-Alben einen Besuch ab.
Reykjavik, 1. April, 21:05 Uhr. Gespannte Stille im Club NASA: Zum ersten Mal seit sechs Jahren wird Björk in ihrer Heimatstadt einen Auftritt mit Solo-Material geben. Zum ersten Mal vor Veröffentlichung ihres neuen Albums volta wird sie offenbaren, welche musikalische Richtung sie 2007 eingeschlagen hat. Zum ersten Mal wird sie auch einige der Musiker vorstellen, mit denen sie seit Monaten arbeitet, und sich dabei der Intimität eines Clubauftritts stellen. All das wird ohne einen Auflaufvon internationalen Medienvertretern, Kritikern und Fanclub-Vorsitzenden passieren: Außerhalb Islands hat kaum jemand von dem Auftritt gewusst. Doch obwohl einige der Gäste, die an diesem Abend mehrheitlich zu Fuß in den Club im Zentrum nahe beim Hafen gekommen sind, Björk persönlich kennen oder mit ihrem Sohn Sindri zur Schule gegan gen sind, ist die Stimmung alles andere als gelöst.
Die Veranstaltung, bei der Björk neben anderen isländischen Musikern auf dem Programm steht, ist ein Benefizabend zum Thema Essstörungen. Auf der Bühne erscheinen immer wieder gefährlich abgemagerte Frauen, die von ihren Erfahrungen mit Anorexie und Bulimie berichten. Das Kapitel aus einem Tagebuch, das ein Mädchen auf Krücken vorgelesen hat, muss besonders bedrückend gewesen sein, denn der betroffene Applaus wird bei ihrem Abgang nicht lauter, obwohl zur gleichen Zeit Björk auf der Bühne erscheint. In einem weinroten Samtkleid und einem gehäkelten Hut wartet sie mit einem halben Lächeln, bis absolute Ruhe eingekehrt ist. Ein unauffällig gekleideter Mann breitet Notenblätter an einer Celesta aus und spielt dann auf dem alten Tasteninstrument, bei dem statt Saiten Stahlplatten zum Schwingen gebracht werden, ein komplexes Intro. Björk beginnt zu singen und zieht dabei die Töne so lang, dass zunächst nicht klar ist, welcher Sprache sie sich bedient. Es ist ein bizarrer Moment: Während an die Wände Fotos von Barbiepuppen projiziert werden, die den Kopfüber Kloschüsseln hängen, zaubern die beiden ein modernes, abstraktes Klanggebilde in den Raum, das nach einigen Zeilen als komplett neu arrangierte Version von „Cover Me“ erkennbar ist. Als der letzte Ton dieses sperrigen musikalischen Kunstwerks verklungen ist, nickt Björk ihrem Begleiter anerkennend zu und ballt die Faust wie ein Tennisspieler nach dem Ass. „Das ist Jonas Sen „, sagt sie mit einem stolzen Lächeln, und es gibt freundlichen Applaus. Jonas Sen ist, wie er später in einem Blog-Eintrag verrät, ein klassisch ausgebildeter Pianist, der an diesem Abend zum ersten Mal in seinem Leben ein Popkonzert spielt.
In einer kleinen Pause vor dem zweiten Song richten sich zehn junge Frauen mit Trompeten, Posaunen, Tubas auf ihren Stühlen ein. Als sie bereit sind, beginnen sie ohne Dirigent und ohne Zeichen selbst und geleiten Björk durch „Um Akkeri“, eine isländische Version von „The Anchor Song“. Der Höhepunkt des kurzen Sets ist der dritte und letzte Song: Bei einer neu arrangierten Fassung von „Immature“ entsteht ein grandioser Kontrast zwischen Björks atemberaubender Stimme, die groß genug ist, Olympische Spiele zu eröffnen, und den wackeligen Bläsersätzen des nervösen Schülerorchesters. Die mit schwitzigen Händen gespielten Blechinstrumente bilden eine Art menschliches Gegengewichtzu derfast überweltlichen Erhabenheit der Gesangsperformance -mit ähnlichen Mitteln arbeitete Björk bereits 2002 bei dem Royal opera HOUSE-Konzertin London, als sie die Elektronik-Spezialisten Matmos mit einem euphorischen Laienchor aus Grönland zusammengebracht hatte.
„Ich finde die Mädchen mit den Blasinstrumenten wirklich sehr, sehr gut“, sagt Björk einige Tage nach dem Auftritt. Obwohl sie die drei geplanten Interviewtage für italienische, japanische und deutsche Journalisten abgesagt hat (offenbar dauern die Proben für die anstehende Welttournee länger als erwartet), nimmt sie sich Zeit, dem musikexpress einige Fragen zu beantworten. „Manchmal kann Professionalität der Musik im Weg stehen „, erklärt sie. „Aber es können ja so viele verschiedene Sachen ,gut’sein. Ich schätze die ganze Bandbreite: Wahrhaftigkeit und Prahlerei, Selbstbewusstsein und Bescheidenheit, Präzision und Schlamperei, Fremde und Freunde.“ Gefallen an der Arbeit mit Bläsern hat Björk bei der Arbeit an dem Soundtrack zu „Drawing Restraint 9“ gefunden, einem experimentellen Film ihres Partners Matthew Barney: „Das waren aber sehr abstrakte, ambientartige Klangflächen. Ich war damals immer neugierig, wie sich Bläser wohl in einem Popsong anhören würden.“ Es klingt absurd: Nach 30 Jahren, in denen Björk erst als Kinderstar, dann als Punksängerin und schließlich als fast weltweit verehrte Künstlerin alle erdenklichen Spielarten der populären Musik ergründet hat, war sie neugierig, wie sich Bläser in einem Popsong anhören würden. Nach hunderten von Stunden am Laptop, in Aufhahmestudios, auf Bühnen und in Konferenz- und Interview-Räumen hat die Isländerin ihr glühendes Interesse an der Musik nicht verloren. Im Gegenteil: Je älter sie wird, desto leidenschaftlicher scheint sie nach Möglichkeiten zu suchen, Wahrheit mit den Mitteln der Kunst auszudrücken.
VOLTA ist in gewisser Hinsicht eine Rückkehr zu ihren Wurzeln: Wie die Songauswahl bei dem Benefizkonzert zeigt (je ein Song aus den ersten drei Alben debut, post und homogenic), hat Björk wieder Gefallen an ihrem frühen Repertoire gefunden. Die Ursprünglichkeit und die Direktheit, die ihre ersten Platten bei aller strukturellen Komplexität durchzieht, kombiniert sie nun frei mit den modernen und abstrakteren Ideen, die sie in den letzten Jahren bis in die Extreme verfolgt hat: „Wanderlust“
hat einen Teppich aus dichten Breakbeats, wirkt aber dennoch pur wie „The Anchor Song“. „I See Who You Are“ ist ein inhaltlich drastisches, musikalisch aber folkloristisch anmutendes Stuck über die Vergänglichkeit und „Earth Intruders“ ein ekstatischer, schamanistischer Knochentanz, der mit seinem futuristischen Beat vermutlich Tote zum Leben erwecken kann, volta ist gleichzeitig auch ein Schritt nach vorne: Björk ging es erstmals auch um ein politisches Statement. „£5 war mir bisher sehr wichtig, aus meiner Musik die Politik, die Religion und überhauptThemen aus den Nachrichten rauszuhalten“, meint sie. „Jetzt aber hat sich eine kleine Tür geöffnet.“ Ausgelöst hat diesen Schritt ein Besuch in Indonesien, wo Björk (die zuvor Einnahmen von einem Remix-Projekt an eine Hilfsorganisation gespendet hatte) in Gebiete gebracht wurde, in denen derTsunami einen Großteil der Bevölkerung ausgelöscht hat. „Ich war total geschockt – das war einer der erschütterndsten Eindrucke meines Lebens“, sagt sie uns heute. Die unmittelbare Erfahrung des Leides und „des Geruchs von Tod, der dort noch immerin derLuft hängt“ ‚.haben „Earth Intruders“ inspiriert – und Björk zum Nachdenken gebracht. „Vielleicht müssen wir uns von der Idee verabschieden, dass wir uns über die Natur erheben können, dass wir als perfekte Menschen getrennt von ihrsein können „, sagt sie in einem aktuellen Video-Interview. „Wir müssen einfach akzeptieren, dass wir der human tribe, der Stamm der Menschen sind. Wir könnten alle unsere Instrumente auspacken und einen globalen Beat anstimmen. Das sind zwar utopische Fantasien – aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass nicht ein bisschen was von dieser Utopie auf dem Album zu finden ist.“ www.bjork.com/unity —