Stille Nächte, großer Zauber


Ariadne von Schirach hat das Geheimnis der Welt entdeckt.

Rheingold, Rheingold, hallt es von den farbigen Schluchten, während der Landrover durch das Atlasgebirge rast, vorbei an sandfarbenen Dörfern und palmengrünen Tälern. Neben mir sitzt Lilly, meine englische Freundin, die aussieht wie eine Mischung aus Rauschgoldengel und Anna Paquin. In mir singen noch die Rheintöchter, die ich vor meiner Abreise in der Berliner Staatsoper gesehen habe, eine wunderbar moderne Inszenierung, werktreu und poetisch. Ich denke an Alberich, der bereit war, der Liebe zu entsagen, um Macht zu gewinnen, und daran, wie das immer schon der Anfang allen Unheils war. Herrschsucht und Gier, entstanden aus Zurückweisung und Einsamkeit. Immer noch modern. Während wir auf der Route von Marrakesch nach Zagora der Wüste entgegenbrausen, schießen Lisa Lore, Sängerin und Phil, ein buddhistischer Komiker, unzählige Fotos. Neben Brahim, dem Fahrer, sitzt Robert, Lillis Mentor, und zwischen Lisa und Phil schläft Claudia, eine französische Chansonniere. Unsere kleine Reisegruppe. Am Straßenrand verkaufen sie Steine, und der Himmel ist so blau wie Roberts Schesch, das Tuch, das er auf Berberart um seinen kahlen Schädel geschlungen hat. Die ernsten Töne Wagners verwehen schon, zu fremd sind sie in dieser sandigen Buntheit, wo die Steine grün sind und rot und dunkelorange, und der Muezzin klagend zum Gebet ruft. Als die Nacht anbricht, fängt Lisa an zu singen, das Lied aus dem Film Out of Rosenheim, „I Am Calling You“:

A hot dry wind blows right through me.

The baby’s crying and I can’t sleep,

But we both know a change is coming,

Coming closer sweet release.

I am calling you.

I know you hear me.

I am calling you.

Ohhhh.

Wir fallen ein, zögernd, leise, lauter, I am calling youhuuuu, ein Wüstenlied. Am Nachmittag des nächsten Tages kommen wir in Bounou an, dem kleinen Dorf am Rand der Sahara, wo Nancy, Roberts alte Freundin, ein fabelhaftes Bed & Breakfast hat. Lilly und ich beziehen ein mauvefarbenes Zimmer mit azurblauen Fensterläden und einem hellblau gekachelten Boden, der mit unregelmäßigen Sternen gesprenkelt ist. Oh, der Sternenhimmel über der Wüste. In samtiger Nacht auf dem Rücken liegen, hineinblicken in die funkelnde Unendlichkeit und wieder an ein Versprechen glauben, dessen Inhalt nicht für Worte bestimmt ist. I am calling youhuuuu. Die Tage sind voller Farben, der Himmel weit und klar, und manchmal weht dieser Wind, den es nur in der Wüste gibt. Er nimmt alle Sorgen mit, allen Kummer, alle falsche Schwäche. Es lässt sich gut reden in der Wüste, und es lässt sich gut schweigen. Und irgendwann fängt die Seele wieder an zu singen. Marokko ist sowieso ein melodisches Land. Die schönen jungen Männer, die Nancy bei sich beschäftigt, lieben es, am Abend unversehens in Musik auszubrechen. Irgendwann sitze ich mit den anderen um die abgeräumten Tische herum und schramme an einer Schelle, kraamm, kraamm. Lilly lässt sich von einem der Jungs belehren, zwei Hände schlagen die große Trommel, bamm, bamm, bamm, während andere Hände, holzig, kundig, einen rasanten Rhythmus auf der Gitarre zupfen. Später singt Lisa ihren Hit „Africa“, und alle fallen ein. Ich wage ein paar kräftige Glockenschläge, während Lisa nach den Kastagnetten greift und Claudia die Schellen schwingt. Phil kratzt an einer Laute, Lilly trommelt selbstvergessen und Robert und Nancy sitzen nebeneinander und klatschen. Wir machen Musik. Wir werden Musik. 12 Menschen aus drei Kontinenten, 18 bis 75 Jahre alt, unsere Leben so unterschiedlich, wie sie nur sein können, alles nicht wichtig, wirklich nicht wichtig, vielleicht ist dies das größte Geheimnis von allen, eines, das man zu begreifen beginnt in solchen Momenten, dass uns alle viel mehr verbindet als trennt, dass wir alle gemeinsam hier sind, dass jeder eine Stimme hat, die unersetzbar ist und notwendig, dass es Gebete gibt, die irdisch sind und heilig zugleich. Die letzten Töne verstummen. Die Nacht ist still. Über uns leuchten die Sterne.

Ariadne von Schirach lebt als freie Autorin in Berlin. In der nächsten Ausgabe schreibt an dieser Stelle: Harriet Köhler.