Strange Days


No future? Das war im Kino nie eine Ungewisse Frage, sondern stets traurige Tatsache. Und schenken wir den apokalyptischen Szenarien von ‚Metropolis‘ bis ‚Blade Runner‘ Glauben, dann kommen wahrhaft üble Zeiten auf uns zu. Wie tröstlich nur, daß pessimistische Science-Fiction-Plots nicht zufällig immer um ein, zwei Lebenslängen in die Zukunft verlegt sind. So kann man sich wenigstens einreden, den Untergang der Zivilisation nicht am eigenen Leibe erleben zu müssen. Auch ‚Strange Days‘, der neue Film der atemberaubend inszenierenden Action-Amazone Kathryn Bigelow (‚Near Dark‘, ‚Gefährliche Brandung‘), spielt in der Zukunft – doch diese ist nur wenige Monate entfernt und wirkt nicht futuristisch, sondern greifbar und furchterregend. L.A., 30. und 31. Dezember 1999. In den letzten Stunden vor Anbruch des neuen Jahrtausends ist die Stadt endgültig am Abgrund. Durch die Boulevards patrouillieren Militärposten, die Schattengestalten der Nacht werden nur von brennenden Geschäften beleuchtet und jeder schlägt sich irgendwie durch, denn gegen das allgegenwärtige Chaos gibt es eh keinen Schutzwall mehr. Auch Lenny Nero (Ralph Fiennes aus ‚Schindlers Liste‘) hat die düsteren Zeichen der Zeit erkannt. Träume hat er nicht, also verkauft er sie: Clips, die Droge der Zukunft. Clips, das sind DAT-ähnliche Tapes, die subjektiv aufzeichnen können, was der Träger sieht, hört und empfindet. Video ist ein Witz dagegen – denn Clips können jede Emotion, jede Erfahrung speichern. Und wer sie abspielt, der lebt die Existenz eines anderen nach. Der pure, adrenalinpumpende Voyeurismus. Lenny dealt mit Sex- und Crime-Clips, doch als ihm die Aufzeichnung eines Mordes zugespielt wird, drohen die Wogen des Underground-Sumpfes über ihm zusammenzuschlagen. Seine Ex (Juliette Lewis als Sängerin von PJ Harvey-Songs) kannte das Mordopfer, eine Prostituierte. Lennys bester Kumpel, ein zynischer Privatdetektiv (Tom Sizemore) tippt auf bürgerliche Todesschwadronen. Und Mace (Angela Bassett), eine Security-Expertin, deren Herz für Lenny schlägt, sieht sich in die Rolle des überforderten Schutzengels gedrängt. Clips, Leichen, Rassenkrawalle, dubiose Gestalten und ein Bündel voller Nebenplots – das sind alles nur Einzelteile eines großen, lauten, langen, schnellen Gesamtkunstwerkes. Als gelte es, einen Meta-Film zu drehen, der die nervöse Energie von ‚Natural Born Killers‘ übertreffen und die ultimative Kernschmelze von Politik, Thrill, Zukunftsvisionen und Entertainment erzwingen will, hat Kathryn Bigelow ‚Strange Days‘ inszeniert: Sie bündelt mehr Story-Geistesblitze und visuelle Detonationen als zehn Filme des Genres. Und gegen Ende, wenn nach zweieinhalb Stunden Freakshow und Cyber-Trip das neue Jahrtausend mit der „Mutter aller Parties“ gefeiert wird, blitzt sogar sowas wie Hoffnung auf. No future? Vielleicht doch.