SXSW – South By Southwest 2012
Einmal im Jahr verwandelt sich Austin, Texas zur Welthauptstadt der Hipster.
Der Hipster erlaubt sich keine Zufriedenheit. Sein Leben definiert sich aus ewiger Angst, etwas verpassen zu können. Zwanghafte Rastlosigkeit ist die Folge, Stillstand der Tod und Austin, Texas zumindest für eine Woche die Weltstadt der Hipster. Jeder weiß beim SXSW, einem der größten Musikfestivals und Branchentreffs der Welt, besser als jeder andere, wo eigentlich die Post abgeht. Man dürfe nur auf „inoffizielle Konzerte“ gehen, behaupten Besucher mit Nerdbrillen im Ausmaß zweier CD-Verpackungen, andere – Glatzenträger mit beamtenhaft penibel designten Vollbärten und fast skelettierten Beinen – belehren, man solle ausschließlich auf Partys in der Eastside gehen, einen Stadtteil Austins, der auf der Übersichtskarte mit allen „offiziellen“ Venues gar nicht erst verzeichnet ist. Gibt es die Eastside wirklich? Und was kann sie schon zu bieten haben? Kann sie ernsthaft mit einem noch cooleren Programm als dem regulären aufwarten? Was wollen die Pitchfork-Jünger denn mehr als Auftritte in improvisierten Clubs von superangesagten Blogthemen wie Friends, Grimes und Lower Dens? Das Festival ist ohnehin unübersichtlich genug: Allein die Anzahl der „ordentlichen“ Konzerte der sechs Tage hier beläuft sich auf mehr als 4 500. Die Logistikerfahrung eines langjährigen Leiters eines hundertköpfigen Unternehmens ist gefragt, um sich hier der Aufgabe zu widmen, einen persönlichen Terminplan zu erstellen. Aber man muss ja nicht da und da und da hin. Das einzige Muss lautet: sich vom Hipsterzwang zu befreien. Denn lässt man sich einfach treiben, ist Austin zur SXSW-Saison ein wahr gewordener Traum: The city that’s built on Rock’n’Roll.
Man stolpert in eine gemütliche Bar namens „Barbarella“, wo die Schweden Korallreven ihr Publikum mit großartigem Dream Pop hypnotisieren. Durch Mund- oder wohl eher: SMS-Propaganda füllt sich das Konzert rasant. Kurz darauf ist die Band als Gewinner des Tages aber auch schon entthront: Django Django führen den repetitiven Psychedelic-Sound von Korallreven noch etwas weiter und versehen ihn mit einem zwingenden Groove, dass man sich schnell wie bei einem Springbreak fühlt. Stiernackige NuMetal-Monster, Mädchen mit Hosen, die so kurz sind, dass sie kaum noch als solche zu erkennen sind, und ergraute Musikjournalisten tanzen so begeistert, dass sich sogar die Band fragen dürfte, wer hier denn wie vielen was in den Drink gemischt hat. Tags darauf läuft man einer Schar Menschen hinterher und findet sich auf einem Open-air-Konzert der Shins vor der malerischen Skyline Austins wieder. Es ist eine vor allem Familien anziehende Gratis-Show – gute Tradition, um die Anwohner unter anderem für die vielen festivalbedingten Staus zu entschädigen. Glowsticks und Kinder gehen zu „So Says I“ und „Australia“ in die Luft. Währenddessen wird in den hinteren Reihen, wo die Musik kaum mehr hörbar ist, diskutiert, Thema: die Nutzung Obdachloser als mobile WLAN-Hotspots beim SXSW. Pro Tag bekommt der sich freiwillig meldende Obdachlose 20 Dollar und ein T-Shirt, auf dem steht „I’m [Vorname
Austin ist sich aber sehr darüber einig, dass der Boss der Boss ist: Ein paar Meter weiter von den Shins versammelt Bruce Springsteen Jimmy Cliff, Tom Morello, Eric Burdon und Arcade Fire auf der Bühne und schmettert anlässlich des 100. Geburtstags von Woodie Guthrie eine geschichtemachende Version von dessen „This Land Is Your Land“. So wird es zumindest erzählt. Man selbst lässt sich ja lieber ein paar Straßen weiter nördlich von The Jesus And Mary Chain wegblasen. Es ist ein – auch physisch – überwältigendes Konzert: eiskaltes Drumming, erbarmungsloses Kreischen, das William Reid aus seiner Gitarre quetscht und dazu dieser Kleinjungen-Gesang seines auch schon 50-jährigen Bruders Jim. Wie viele der Bands rundherum wären undenkbar ohne die Vorarbeit der schottischen Noise-Rock- und Shoegaze-Pioniere? Selbstverständlich gibt es keine Zugabe. Diese Band ist ein abgeschlossenes Kunstwerk. Keine neuen Songs. Keine Zugeständnisse. Keine ruhige Nacht danach. Totally worth it.