Tortoise
Was aus Punk so alles werden kann: E-Pianos und Vibraphone, Melodicas und Syndrums ergänzen die klassische Rock-Besetzung bei einem Tortoise-Konzert. Und trotzdem besteht Bandleader und Schlagzeuger/Vibraphonist/Pianist John McEntire darauf, daß das alles ohne Punk nicht möglich gewesen wäre: „Die amerikanische Punk-Szene der frühen 80er hat uns geprägt, aber das heißt ja nicht, daß man ewig im gleichen Stil weitermachen muß.“ Schon Bastro, der Tortoise-Vorläufer, war eine Band, die mit ihren vertrackten Rhythmen und ambitionierten Texten höchstens noch die Idee von Punkrock im Sinne von „anything goes“ verinnerlicht hatte. Tortoise gehen da noch ein ganzes Stück weiter. So verzichtet die Band live genau wie auf ihren zwei Alben auf Gesang, verläßt sich also völlig auf die Virtuosität ihrer Musiker. Neben Universalgenie McEntire, der im Zweit-Engagement als Schlagzeuger von The Sea & Cake mit eher üblichen Songstrukturen arbeitet, genießt auch Bassist Doug McCombs bei Tortoise sozusagen den Ausgleich für die konventionellere Spielweise seiner anderen Band Eleventh Dream Day: „Bei Eleventh Dream Day herrscht immer in ein enges Song-Konzept vor, bei Tortoise bleibt mir Raum für Improvisation“, sagt McCombs, der ständig zwischen beiden Bands pendelt und nach derTortoise-Tour sofort mit Eleventh Dream Day ins Studio muß. Auch Gitarrist Dave Pajo geht einer Doppelbeschäftigung nach, er spielt nebenbei Baß bei Stereolab. Tortoise sind also nicht als klassische Rockband zu sehen, sondern mehr im Sinne eines Jazz-Ensembles alter Schule. Ein- und aussteigende Musiker bedeuten hier keinen Bruch im Konzept, sondern sind die Regel. Zur aktuellen Tortoise-Ausgabe gehören außerdem Multiinstrumentalist Dan Bitney, der auf der Bühne häufig zwischen E-Piano, Gitarre und Vibraphon wechselt sowie John Hemdon an den Keyboards. Das Live-Programm besteht fast ausschließlich aus Material der beiden Alben ‚Tortoise‘ und ‚Millions Now Living Will Never Die‘, wobei nicht ein Stück nach dem anderen heruntergespielt wird, sondern oft Collagen aus vier bis fünf Songs zu hören sind. ‚Djed‘, das perkussive Hauptwerk des zweiten Albums, das auf Platte 20 Minuten dauert, wird im Konzert über den Abend verteilt in drei kleinen Portionen verabreicht. Das „Krautrock“-Attribut, das der Band gerne untergejubelt wird, ist live nicht bestimmend. Die Improvisationen der fünf Musiker rufen vielmehr den alten Begriff )azz-Rock in den Sinn, hier aber nicht zu verstehen als lahmes Jam-Session-Gedudel, sondern als neue Mischung aus hochmoderner Rockmusik und der klassischen Herangehensweise des Jazz. Tortoise gelten bei vielen als Vorreiter einer neuen, anspruchsvollen Pop-Musik. Denn die Band kennt auch keine Berührungsängste mit der Dance-Kultur. Tortoise-Stücke und Remixes finden sich auf verschiedenen Dubund Techno-Compilations. Bei Tortoise bestätigt sich der Trend, daß man wohl nicht mehr lange in den alten Genre-Schubladen denken kann unglaublich, was aus Punk so alles werden kann.