U2 im Olympiastadion, Berlin
Frontalunterricht in Sachen Größenwahn. U2 machten im Zuge ihrer 360°-Tour Halt in der deutschen Hauptstadt. Inmitten eines gigantischen Bühnenaufbaus feierten Bono & Co. ein buntes Fest der gewollten Reizüberflutung. Hier der Bericht des Konzerts.
Ach, Berlin, du süße Arm-aber-sexy-Maus: Weil irgendjemand in der Kommandozentrale der Hauptstadt-S-Bahn diese lästige Tätigkeit namens Wartung ein paar Monate lang einfach mal sein lies, verkehrt jene auch am Abend des U2-Konzerts nur gerüchteweise. Der geneigte Konzertgänger von Bono und Co. findet’s vermutlich nicht so schlimm. Denn so fährt er zum Olympiastadion eben mit der – Achtung, Holzhammer – U2. Bei den Massen spanischer Touristen, die gefühlt 70 Prozent der Besucher des Berliner Abstechers der „360“-Grad-Tour ausmachen, führt das zum verzückten Zücken der Fotohandys und Digitalkameras.Ein paar positive Überraschungen hält der Abend dann aber auch noch für all die bereit, denen das nicht ganz ausreicht. So beendet der wie die gesamte Band sehr kernig, sehr real gekleidete Bono „I Still Haven’t Found What I’m Looking For“ mit einem unerwarteten Popzitat: Zehn, zwölf Sekunden lang singt er plötzlich Primal Screams „Movin‘ On Up“ an und stellt es damit auf eine Stufe mit dem an anderer Stelle rezitierten „Here Comes The Sun“ von den Beatles. Die klerikale Feierlichkeit des Manchester-Tracks passt natürlich ausgezeichnet zu jenem Abend im Berliner Olympiastadion. U2, das kennt man, zelebrieren nicht ein Konzert, sondern einen eigentümlichen Hybrid aus Parteitag und Hohenmesse, aus Pop, Politik und Religion. Das deutet auch die Bühne an, die die klassischen Codes der Unterhaltungsindustrie geschickt bricht: Was Bono „unsere kleine Raumstation“ nennt, ist ein hochkomplexer und von allen Seiten einsehbarer Multifunktionspavillion, dessen Herz gleichsam als visueller Datenträger funktioniert und trotz seiner Größe ohne all die maskuline Kraftmeierei, die Stadionrock oft so unsympathisch macht, auskommt.Auch wenn Behauptungen, das alles würde zu einer Demokratisierung des Konzerterlebnisses führen und jeder wäre letztendlich gleich nah dran an dieser Wunderbühne, natürlich Unsinn sind: Verringert werden die Distanzen zwischen Künstler und Publikum allemal, was aber gar nicht so wichtig ist. Denn spätestens ab der Mitte des Abends verschieben U2 die Schwerpunkte. Frontalunterricht in Sachen Bürgerrecht, gereicht in leicht verdaulichen Häppchen. Bei „Sunday, Bloody Sunday“ färben sich die 500.000 Pixel der Leinwand nicht rot, sondern – in Solidarität mit der iranischen Opposition – grün, Zitate aus dem Song laufen in Farsi über die Leinwände. Weiter auf der Setlist: ein vom Publikum eher als Pflichtübung betrachtetes Geburtstagslied für Nelson Mandela, eine in ganz witziger Pop-Art-Optik daherkommende Grußbotschaft von Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu und eine Solidaritätsadresse an die in Birma einsitzende Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Auch der kürzlich verstorbene Michael Jackson wird geehrt – mit ein paar Takten von „Man in The Mirror“ und „Can’t Stop ‚Till You Get Enough“, hübsch eingeflochten in den U2-Track „Angel Of Harlem“.Oft genug schaffen es die Iren aber auch, eine für 90.000 Anwesende verblüffend schlüssige Intimität herzustellen. „Stay (Far Away, So Close)“ gibt’s akustisch. „The Unforgettable Fire“ wird von flackernden Rottönen passgenau unterstrichen, bei „One“ beschwört Bono die besondere Verbindung der Stadt zu Berlin. Und ja, manchmal lacht er auch. „Rockstars are small guys!“ sagt er einmal, um seinen kleinen Körper während der Zugabe in eine von roten LED-Lämpchen durchsetzte Lederjacke zu zwängen. Das sieht ein bisschen geil aus, streift aber natürlich auch die Grenze zum Größenwahn. Solche Spielereien muss man einem Stadionrocker freilich nachsehen – dem Papst wirft ja auch keiner vor, dass er katholisch ist.
Jochen Overbeck – 22.07.2009