Von Bill Callahan bis Pur: Eine Ode an die Weltflucht-Songs der letzten Jahrzehnte
Jan Müller von Tocotronic trifft für seinen „Reflektor“-Podcast interessante Musiker*innen. Im Musikexpress und auf Musikexpress.de berichtet er von diesen Begegnungen. Hier die 22. Folge seiner Kolumne, in der er sich einer Eskapismus-Listening-Session hingibt.
Angesichts der Weltlage empfehle ich euch einfach mal die Vorhänge zuzuziehen, das WLAN abzuschalten und ein paar Schallplatten aufzulegen. Es gibt diesbezüglich wohl kaum einen schöneren Start als den Song „Morning Paper“ von Smog: „The morning paper is on it’s way /And it’s all bad news on every page / So I roll right over / And go to sleep / The evening sun will be so sweet“, klagte Bill Callahan im Jahr 1997. Dazu hören wir seine wundervoll zarte Gitarre, umringt von Hörnern, Trompeten und einem Hurdy Gurdy.
Zwanzig Jahre später verspürte Morrissey in seinem „Spent The Day In Bed“ einen ähnlichen Impuls: „Stop watching the news / Because the news contrives to frighten you“. Moz hätte seinen eigenen Appell ernst nehmen sollen. Dann hätte er der Welt erspart, ansehen zu müssen, wie er sich ein Jahr später in die Arme der Rechtsextremisten von „For Britain“ geworfen hat. Peinlich und schlimm. „Spent The Day In Bed“ ist sein letzter Hit.
Zumindest für den Fernseher ist noch genug Energie vorhanden
Also wende ich mich verlässlicheren Zeitgenossen zu: 2010 dichtete Carsten Friedrichs mit Superpunk „Ruf bei der Arbeit für mich an / Und sag denen, dass ich heute nicht kann / Schalt die Haustürklingel aus / Und zieh das Telefon heraus“. Für seinen Song „Ich will heute nicht kämpfen“ ließ er sich von Joey Ramone inspirieren: „Merry Christmas (I Don’t Want To Fight Tonight)“. Auch toll. Aber um Weihnachtslieder soll es hier nicht gehen. Unser Thema ist Weltflucht. Carstens Anweisung „Leg die Sinatra-Platte auf / Und dann dreh’ ich die Heizung auf“ ist dieser Tage allerdings nur mit prall gefüllter Brieftasche erfüllbar. Aber zumindest für den Fernseher ist noch genug Energie vorhanden.
„Heute gehen wir gar nicht raus / Wir bleiben im Pyjama zu Hause / Nur wir zwei, wie im Traum / Und Columbo schauen“, rieten uns Wanda 2017. „Es wird eine schöne Lösung sein / Doch wir beide passen nicht hinein“, heißt es schließlich pessimistisch im Text. Die sanfte Musik schafft es, uns die Bitterkeit der Vergeblichkeit nicht spüren zu lassen.
„Abenteuerland“ ist ein Agit-Pop-Werk gegen die Totalität der Realität
Der absolute Wahnsinn, sozusagen der Glööckler unter den Weltflucht-Songs, ist aus dem Jahr 1995. Er startet durchaus düster: „Der triste Himmel macht mich krank / Ein schweres graues Tuch / Das die Sinne fast erstickt / Die Gewohnheit zu Besuch“. Doch dann deklamiert Sänger Hartmut Engler kurzatmig: „Ich will weg, ich will raus, ich will wünsch mir was“. Die Reise geht los. Pur schrauben sich mit Hilfe von Gitarren, Sitars und teuren Synthesizern in immer weitere Refrain-Drehungen: „Komm mit mir ins Abenteuerland / Der Eintritt kostet den Verstand“. Nach sechs Minuten, in denen wir ins Reich der Imagination eingerührt wurden, ist der Zauber vorbei. „Abenteuerland“ ist bis heute einer der faszinierendsten Popsongs aller Zeiten, ein Agit-Pop-Werk gegen die Totalität der Realität.
Im Jahr 1961 ersann Georg Kreisler eine sparsamere Form der Weltflucht. Nur mit Gesang und Klavier imaginierte er sich eine Begleitung herbei und stellte fest: „Träume sind nicht Schäume / Sind nicht Schall und Rauch / Sondern unser Leben / So wie wache Stunden auch / Wirklichkeit heißt Spesen / Träume sind Ertrag“. Wie wahr das ist! Angesichts von Kreislers Zeilen denke ich an den Käfig-Löwen im Film „Zur Sache Schätzchen“, über den Werner Enke behauptet: „Der hat ganze Dramen im Kopf. Die wirklichen Erlebnisse sind bloß ein schlaffer Ersatz für die Fantasie.“
Eine Realität, in der Himbeer-Cola existiert, ist besser als jeder Traum
Im Jahr 1979 erlaubten sich auch Punks noch die Flucht in den Traum: „Dreamin’, dreaming is free / People stop and stare at me / We just walk on by / We just keep on dreaming“, sangen Blondie. Mehr Romantik war selten. Anders als das paradiesische Abenteuerland von Pur ist Green Velvets „La La Land“ Paradies und Hölle zugleich. „I hope that I have enough change so I can make my brain rearrange“. Der Protagonist des Tracks ist unter Zwang, er bedrängt sich selbst, seine innere Leere zu verjagen. „La La Land is where I need to be / La La Land is the place that all sets me free“.
Wie jeder gute Song über Drogen ist „La La Land“ Verlockung und Warnung zugleich. Ich selbst bin nie so gut mit dem Versetzen in andere Welten durch Substanzen zurechtgekommen. Meine kärglichen Versuche misslangen. Ich habe kein Talent für Drogen. Daher zurück in die Realität. Der letzte Song meiner kleinen Eskapismus-Listening-Session ist „I See A Darkness“. Ich lege nicht die wundervolle Johnny-Cash-Version und nicht das tolle Original von Will Oldham auf, sondern entscheide mich für dessen sehr vitale Version seiner „Now Here’s My Plan“-EP aus dem Jahr 2012. „Did you know how much I love you? / Is a hope that somehow you / Can save me from this darkness“. Dieser düster dräuende Jahrhunderthit schafft es, dass ich mich bereit fühle, wieder vor die Haustür zu treten, um mir etwas zu trinken zu besorgen. Himbeer-Cola! Eine Realität, in der Himbeer-Cola existiert, ist besser als jeder Traum.
Zu Jan Müllers „Reflektor“-Podcast: www.viertausendhertz.de/reflektor
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 12/2022.