Kommentar

Warum Band-Bezeichnungen wie „female fronted“ und „all female“ fast nie cool sind


Die vermeintlich feministischen Bezeichnungen von Bands als „female fronted“ oder „all female“ tun der Diversität in der Musikindustrie kaum Gutes. Ein Kommentar.

Die Line-ups von Festivals werden immer länger, Bands mit FLINTA*-Personen, also Frauen, Lesben, intergeschlechtlichen, transgeschlechtlichen und nichtbinären Menschen, bleiben weiterhin nur spärlich vertreten. Und dann liest man auch noch bei dieser einen FLINTA*-Musikgruppe den Zusatz „female fronted“ als Beschreibung einer Formation mit SängerIN. Das Ganze hinterlässt, trotz des feministischen Gedankens, ein zwiespältiges Gefühl.

Ist es nicht irgendwie seltsam, diese traurige Realität durch etwaige Bezeichnungen noch mehr zu bestärken? Wie zeitgemäß sind Bezeichnungen wie „female fronted“ und „all female“ überhaupt noch? Entsteht dadurch nicht ein falscher Blick auf die Tatsache der mangelnden Chancengleichheit innerhalb der Musikindustrie? Anstatt proaktiv an der Ursache, und zwar zum Beispiel der wenig diversen Auswahl eines Festival-Bookings, zu arbeiten, wird der Fokus auf diejenigen gerichtet, die sowieso bereits an der Ungerechtigkeit leiden.

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Die eigentliche Ursache des Problems

Rock am Ring 2022: Nur 5,58 Prozent der Musiker*innen auf einem der größten deutschen Musikfestivals sind weiblich. Eine gerade mal um 0,5 Prozent bessere Bilanz als der Alkoholgehalt in Export-Bier, der bei 5 Prozent liegt. Die Zahlen stammen von „Music S Women“, einem Netzwerk, das die mangelnde Chancengleichheit und den Blick von FLINTA*-Personen auf die Musikindustrie mit der breiten, männlichen, Masse teilt.

Ihr Post und die schockierenden Zahlen sorgten 2021 für viel Aufmerksamkeit auf Social Media:

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Und wie sieht es im neuen Jahr aus? Mit ihrer ersten Bandwelle für 2023 haben Rock am Ring den FLINTA*-Prozentsatz im Line-up fast verdoppelt und liegen aktuell bei 9 Prozent. Immer noch traurig, aber ein kleiner Erfolg. „Ein Lachen, das aber noch auf halber Strecke im Halse stecken bleibt. Baby Steps – sehr sehr kleine Baby Steps“, schreiben „Music S Women“ vor einigen Wochen auf Instagram.

Mit Aussagen wie „Es gibt einfach keine weiblichen Bands, die groß oder gut genug sind“ wird immer wieder versucht, das Ungleichgewicht zu entschuldigen (ein Blick auf das Line-up des Primavera Sound etwa beweist das real existierende Gegenteil). Anstatt sich mit der Realität zu konfrontieren, werden unterrepräsentierte Personengruppen (in diesem Falle Frauen, dazu unten mehr), durch solche Sätze als Schuldige dargestellt. Eine ähnliche Verschiebung der Problematik auf die sowieso schon Leidtragenden geschieht auch bei Beschreibungen, wie „female fronted“ oder „all female“. Anstatt die Problematik eines sexistischen Line-ups zu benennen, wird glorreich diese eine Musikgruppe in den Vordergrund gerückt, die ausnahmsweise nicht dem großen, männlichen Rest entspricht.

Die Ursprünge der Bezeichnung „female fronted“

Der Terminus „female fronted“ hat sich ursprünglich im Metal, Rock und Punk etabliert. Wie schon vor Jahrzehnten stehen noch heute in diesen Genres hauptsächlich „male fronted“ Bands, wie Metallica, Green Day, die Arctic Monkeys und die Red Hot Chili Peppers an der Spitze. Als bewusste Entgegensetzung zur standardgemäßen Bezeichnung „Band“, bei der inhaltlich keine Konkretisierung von Geschlechtern vorliegt, wollte man im Zuge des Feminismus auf das Geschlechter-Ungleichgewicht aufmerksam machen und die „seltene Tatsache“ einer weiblichen Sängerin unterstreichen. Irgendwie plump, oder? Immerhin stand die Bezeichnung „male fronted“ bisher wohl vor keinem Namen einer Musikgruppe.

Kommen wir nun zur (falschen) binären Vorstellung von Geschlechtsidentität, die unter anderem durch Zuschreibungen wie „female fronted“ weiter befeuert wird. Denn in dieser Debatte geht es nicht nur um die Frage zwischen männlich oder weiblich, sondern genau so um alle Personen, die sich als dazwischen, dahinter, darüber oder darunter identifizieren. Was ist also mit all den Menschen einer anderen geschlechtlichen Identität? Müsste es, um eine Person eines diskriminierten Geschlechts innerhalb einer Musikgruppe hervorzuheben, nicht mehr als die Option „weiblich“ geben? Wenn schon labeln, warum dann nicht wenigstens divers? Schöner, und weitaus differenzierter, als die plumpe Zuschreibung „female“ wäre doch „FLINTA*-fronted“. Denn nicht nur Frauen, sondern auch intergeschlechtliche, transgeschlechtliche und nichtbinäre Menschen sind vom Patriarchat unserer Gesellschaft betroffen. So scheint die Idee hinter „female fronted“ lobenswert, dennoch fehlt der Boden vom Fass.

Das ist die wahre Ursache mangelnder Diversität in der Musikindustrie

Aber woran genau liegt es, dass die Line-ups seit Jahrzehnten ein Männerdomizil sind, wo FLINTA*-Personen als Exot*innen gehandelt werden? In einer Gesellschaft, die auf der Grundlage des männlichen Geschlechts täglich weiter ausgebaut wird, besteht für Andersgeschlechtliche insgesamt wenig Sichtbarkeit. Das beginnt bei alltäglichen Themen, wie der Jobsuche oder lebenswichtigen Grundlagen, beispielsweise der Sicherheit von Fahrzeugen, die hauptsächlich an Dummys mit typisch männlicher Statur getestet wird. Cis-Frauen, also Personen, in deren Geburtsurkunde „weiblich“ eingetragen wurde und diese sich damit identifizieren, lernen spätestens in der frühen Jugend, lieb und süß und am besten noch sexy zu sein. Geschieht dies nicht durch Rollenbilder aus dem Umfeld, passiert es spätestens dann, wenn sie raus in die große, weite, männliche Welt spazieren.

Und schneller, als man nur „aber“ sagen kann, ist auch die Musiklandschaft von diesem strukturellen Problem betroffen: Einer Cis-Frau mit 35 Jahren einen Plattenvertrag anbieten? Neee, denn dann ist sie schon aus der Blütezeit ihres Lebens heraus. Ein Cis-Mann hingehen gewinnt im Kopf der Gesellschaft mit jedem grauen Haar an Charisma und Sexappeal, weshalb dieser am besten direkt einen Deal bei einem Major-Label kassiert. Und hat es dann doch eine Cis-Frau an den Musikhimmel geschafft, ist von fairer Bezahlung kaum zu sprechen. Trotz gleicher Rahmenbedingungen des Auftritts und gleicher Follower*innen-Anzahl auf Instagram könnte das Gehalt, einfach aufgrund des unterschiedlichen Geschlechts, nicht unfairer sein. Stichwort „Gender-Pay-Gap“ oder auf Deutsch „geschlechterspezifisches Lohngefälle“. So entsteht ein Teufelskreis, der dazu führt, dass FLINTA*-Rollenbilder ausbleiben, was dazu führt, dass nur wenige FLINTA*-Newcomer*innen nachziehen. Denn ohne Idole keine Nachfolger*innen, und das nicht nur in der Musik. Über die Rolle von FLINTA*-Personen in der Musikszene hat auch Paula Irmschler in ihrer Popkolumne im September berichtet.

Die Mechanismen gegen das Patriarchat

Es gibt einige Ansätze, mit denen auf die gesamte Problematik aufmerksam gemacht werden soll. Leider führen nur manche der Ideen zum geplanten Ziel: Ein Festival von Frauen für Frauen wie zum Beispiel das DCKS-Festival von Carolin Kebekus hat im Rahmen der Debatte eine andere Wirkung als ein „Frauen-Konzert“ von K.I.Z., bei dem Cis-Männer sich als Frauen verkleiden. Nicht falsch verstehen: Es ist toll, dass das Thema immer mehr Aufmerksamkeit erhält. Aber umso wichtiger ist es, Betroffene (und nicht noch mehr Cis-Männer) zu Wort kommen zu lassen und ihnen eine Bühne zu bieten. Ebenso gehören nicht die „female fronted“ Bands auf ein Podest, sondern die oft beschissenen Line-ups der Veranstalter*innen, die es immer wieder schaffen, Diversität zu ignorieren. Es kommt also immer auf den Kontext einer vermeintlich feministischen Aktion an und darauf, von wem das Ganze umgesetzt wird.

Ein, zumindest für diesen Artikel, letztes Beispiel liefert die Musikgruppe HAIM: Die drei Schwestern haben auf ihrem Instagram-Account 1,4 Millionen Follower*innen. Damit folgen ihnen mehr als vier Mal so viele Personen wie Clueso (knapp 300 Tausend), mehr als acht Mal so viele wie Billy Talent (knapp 160 Tausend) oder nur 200.000 Menschen weniger als Led Zeppelin (1,6 Millionen). Mit großer Wahrscheinlichkeit können wir alle mehr zu Clueso, Led Zeppelin und Billy Talent sagen als zu HAIM. Und das trotz größtenteils weitaus höherer Reichweite der Schwestern. Das Beispiel belegt erneut: FLINTA*-Personen werden gesellschaftlich weitaus weniger sichtbar gemacht als Männer. Und das hat nichts, rein gar nichts, mit weniger Können oder einer geringeren Follower*innenzahl auf Instagram zu tun.

Um den begonnenen Bildungsauftrag abzuschließen, gibt es hier das aktuelle Album WOMEN IN MUSIC PT III von HAIM, die es auch auf das Titelbild des Artikels geschafft haben und wohl mindestens genau so viel Aufmerksamkeit wie Led Zeppelin und Kollegen verdienen:

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