Wohin mit dem Gefühl?


Kettcar haben vor zehn Jahren den deutschen Befindlichkeitspop erfunden. Männer, die lieber für immer Jungs wären - das war neu, heute beherrscht dieser Typus das Land. Gute Aussichten für das vierte Album.

Es ist 12.37 Uhr, die Wolken hängen über Hamburg wie ein muffiges Spültuch. Manchmal suppt es raus, und vor dem Eingang des eher unscheinbaren Wohn- und Geschäftshauses in der Hamburger Feldstraße, in der die Plattenfirma Grand Hotel van Cleef ihr Büro hat, flanieren ältere Trinker. Drinnen sitzt Marcus Wiebusch in einem kleinen Konferenzraum. Der Sänger von Kettcar kräuselt gerade die Stirn. Er ist etwas angesäuert, weil er die These nicht mag, er sei mit seiner Band Kettcar zumindest teilweise für den erfolgreichen Radiopop dieser Tage mitverantwortlich, also für die Songs von Musikern wie Tim Bendzko, Jupiter Jones oder Revolverheld.

Doch diese Verbindungslinie zu ziehen, scheint nicht besonders abwegig, könnte man behaupten, denn die beiden ersten Alben der Hamburger Band haben Texte kultiviert, die ohne Chiffren und doppelte Bedeutungsböden auskamen. Wiebusch sang auf Du und wieviel von deinen Freunden, dem Debüt seiner Band, davon, dass es angenehmer sei, im Taxi zu weinen als in irgendeinem HVV-Bus – oder er machte die Landungsbrücken zum Thema, seit jeher eines der Wahrzeichen der Hansestadt. „Der Inhalt des Albums wird durch die Themengebiete Liebe, Freundschaft, Träume, Hoffnung und Alltagssituationen gedeckt“, heißt es etwas unbeholfen und schwammig bei Wikipedia – und trifft doch den Punkt. Man könnte auch sagen: Kettcar waren gemeinsam mit den Berlinern Wir sind Helden Anfang des Jahrtausends die Speerspitze einer Mittelstandsmusik, der Soundtrack einer Nicht-mehr-ganz-Jugend, denen der Diskurspop von Bands wie Tocotronic zu mühsam war. Sie postulierten deren diffuse Erwartungshaltungen und Gefühle wie sonst nur die ein Jahr später gegründete Zeitschrift „Neon“. Ein Blatt, in dem angeblich aus ästhetischen Gründen eine Zeitlang keine kontemporären Elektrogeräte abgebildet werden durften und in dem sogenannte „ehrliche Kontaktanzeigen“ geschaltet wurden. Da stand dann, dass Anna, 23, laut Ex-Freund „anstrengend und zickig“ sei. Der „Neon“-Claim „Eigentlich sollten wir erwachsen werden“ ließ sich eins zu eins auf die Band übertragen. Beide, die Band und die Zeitschrift, trafen mit dieser Einstellung den Nerv von sehr vielen und wurden folgerichtig Mitte des vergangenen Jahrzehntes ziemlich schnell ziemlich groß. Kettcar und die ähnlich aufgestellten Tomte spielten bald in großen Hallen und erreichten mit ihren Alben die vorderen Regionen der deutschen Charts. „Texte, die ganze Poesiealben füllen könnten“, schreibt ein Käufer in einer Kundenrezension bei amazon.de. Ein anderer fügt hinzu, er habe zum ersten Mal seit Langem das Gefühl, eine Platte sei speziell für sein Lebensgefühl aufgeschrieben. Kettcar waren plötzlich und unverhofft bundesdeutscher Konsens, und vielleicht meint Marcus Wiebusch solche Zeilen, wenn er heute sagt, dass er mit der Rezeption seiner frühen Songs manchmal Probleme habe.

Dass heute irgendwelche junge Wuschelköpfe singen, sie müssten nur noch schnell ihre E-Mails checken, bevor sie die Welt retteten, lässt sich eben durchaus auf Kettcar zurückführen. Die sehen das naturgemäß anders. „Du sagst jetzt ‚Die Geister, die wir riefen‘, oder?“, so Wiebusch. „Das ärgert mich, weil wir es damals frischer angingen. Ich finde, das ist Platzhalterlyrik, Malen nach Zahlen. Und wenn man sagt, dass wir die Wegbereiter dafür sind, blendet man zweierlei aus. Erst mal, dass es vorher so was wie das, was wir machen, nicht gab. Und dann, dass wir uns weiterentwickelt haben. Einer wie Tim Bendzko soll erst mal eine Platte wie Sylt aufnehmen.“

Mit einem direkten Vergleich des Materials wird man Wiebusch natürlich nicht wirklich gerecht. Denn seine Texte haben durchaus eine Geschichte. Bevor er 2001 nicht nur die Band Kettcar, sondern gemeinsam mit Tomte-Sänger Thees Uhlmann auch das Label Grand Hotel van Cleef gründete, spielte er in der Punkband …But Alive mit. Wütende junge Männer, die Anfang der 90er-Jahre im frisch wiedervereinten Deutschland, vor allem aber im Schatten der rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda Songs spielten, die „Nur Idioten brauchen Führer“ und „Ich möchte Ilona Christen die Brille von der Nase schlagen“ hießen, und mit den Berufsrevolutionären von Slime oder den kanadischen Polit-Punkern Propagandhi durch die Republik tourten.

Deutschpunk war nicht nur für Wiebusch schnell vorbei, sondern für die gesamte Republik. Slime lösten sich – mal wieder – 1994 auf, die Goldenen Zitronen wechselten ins Diskursfach. Die Ärzte und die Toten Hosen waren längst im Stadion-Mainstream angekommen.

Kettcar wurden nur einmal, auf dem vor vier Jahren erschienenen Sylt, politisch, einem erstaunlich ruppigen Statement gegen – nun ja, eigentlich gegen die Umstände an sich. „Wir wollten damals ein Album schreiben, das nicht einverstanden ist“, sagt Wiebusch heute. Notiz am Rande: Auch der erwähnte „Neon“-Slogan wurde diskutiert. In „Graceland“ sang Wiebusch von Partys in Altbauwohnungen, von Sätzen, die mit „eigentlich“ beginnen, und von kleinen, dicken Kindern auf der Suche nach Kuchen.

Auf dem nun erscheinenden Zwischen den Runden wird nur noch in einem Song das große Fass aufgemacht: Im hektisch zappelnden „Schrilles, buntes Hamburg“ wird über die Umverteilung des Kultur-Etats und die Rolle von Kunst in der Hansestadt („Da Perlenketten, hier Nudeln mit Senf“) gesprochen und über die Verwertungskette im aktuellen Kulturzirkus, die für Popbands ein anderes Geschäftsmodell vorsieht als noch vor 20 Jahren.

Wo, bitte, ist die Wut hin? Der Wille, gegen die Zumutungen des Lebens aufzubegehren? Marcus Wiebusch sagt, er habe gerade einfach keine Lust, politische Lieder zu schreiben. Das mag an seinem biografischen Hintergrund liegen, oder daran, dass er diesbezügliches Können mit dem letzten Album bereits hinreichend zeigte. Aber gerade, weil Sylt eine gute Platte war, ist es schade, dass er auf Zwischen den Runden einem anderen Weg folgt. Wiebusch und Bassist Reimer Bustorff, der etwa die Hälfte der Textarbeit bestritt, versuchen, den befindlichkeitsfixierten Phrasenpop der ersten beiden Platten in ein Adult-Contemporary-Korsett zu drücken, möchten die Sorgen, aber auch das Glück jener abbilden, die irgendwo zwischen 40 und 50 stehen. Damit könnten sie wieder punktgenau im bundesrepublikanischen Gefühlskonsens landen. Denn immer noch – oder stärker denn je – weigern sich die meisten Menschen, erwachsen zu werden. Wie die „Neon“-Leser sind auch die Kettcar-Fans älter geworden, aber das Verzagte, das Zweifelnde, das unentschlossen Verständnisvolle, das einst als Phase des Übergangs beschrieben wurde, hat sich in vielen Fällen als Endlosschleife entpuppt. Prenzlauer-Berg- oder Schanzenviertel-Eltern, die Outdoor- statt Trainingsjacke tragen und tagsüber nicht mehr in die Uni, sondern ins Büro pilgern und Bücher lesen oder sogar schreiben, in denen sie sich pausenlos um sich selbst drehen, in denen „Unnützes Wissen“ postuliert wird und die Titel wie „Eine heitere Seelenkunde“ (mit einem Vorwort von Eckart von Hirschhausen) tragen. Die Gefühls-Republik-Deutschland ist expandiert seit den Kettcar-Anfängen, es wäre nur logisch, wenn die Band davon profitieren würde. Die neuen Kettcar-Songs sind vertonte ARD-Mittwochsfilme, in denen das Kleine mit einem Vergrößerungsglas sichtbar gemacht wird. Das kann die Liebe sein – in „Rettung“, dem Opener des neuen Albums, singt Wiebusch davon, wie es ist, der eigenen Freundin nach einer Party gone wrong die Kotzebröckchen aus den Haaren zu entfernen. Was, nebenbei bemerkt, bei einem Mittvierziger doch ein wenig bizarr wirkt. Das kann aber auch der Tod sein. Mit „Nach Süden“ und „Zurück aus Ohlsdorf“ handeln zwei Songs vom Sterben – und nähern sich dem Thema ohne große Metaphern. Es sind Songs, denen man erst mal zustimmt. Zeilen, über die man grübeln, aber nicht nachdenken muss. Musik für den bundesdeutschen Bauch.

Die Punk-Szene antwortete auf Kettcars Erfolg seinerzeit übrigens mit einem Mix aus Ablehnung und offenem Hohn. Wiebusch wurde Ausverkauf vorgeworfen, die Hamburger Veteranen Oma Hans gingen seine neue Band in einer Textzeile harsch an: „Landungsbrücken sprengen! Depressive Anekdoten, die keinem etwas helfen außer Geld“, textete deren Kopf Jens Rachut Anfang des Jahrtausends. Auch heute reibt man sich an Kettcar – die Hamburger 1000 Robota, denen mit Anton Spielmann einer der klügsten Texter der Pop-Gegenwart vorsteht, sagten in einem Interview mit der „Zeit“ über ihre Feindbilder: „Tomte, Kettcar, Herrenmagazin, die Kilians. Trost suchende Gewohnheitstypen, die sich ab und an dazu entschließen, mit ihrem kleinen Reclam-Heftchen in Bars abzuhängen, St.-Pauli-Fans und Freund von allem und niemandem zu sein.“ Auch die Mainstream-Presse ist nicht immer begeistert: Als Kettcar 2009 mit einem Streichquartett tourten, zog die „Süddeutsche Zeitung“ eine Analogie zur „Märchenonkel-Band Pur“.

Das mit Pur liest man öfter, auch wenn es dadurch nicht wahrer wird. Vielmehr hat es mit der Stimmfarbe Wiebuschs zu tun, die gewisse Ähnlichkeiten mit der von Pur-Kopf Hartmut Engler aufweist, was man dem Kettcar-Sänger nicht wirklich anlasten kann. Andererseits: Überhöhung als Stilmittel. Denn die einfachen Strukturen mancher Stücke provozieren schnell den Verdacht der Schlager-Nähe – nicht gerade ein origineller Vorwurf gegenüber deutschem Pop, aber ein durchaus geläufiger. Kettcar schreiben Popsongs über das Leben, Amen und aus. Das ist oft ziemlich kumpelig, distanzlos, identitätsstiftend. Selbst die traurigen Lieder verstören nicht, sondern laden den Hörer dazu ein, sie mit eigenen Inhalten zu befüllen. Kettcar klingen authentisch. Oder? Wiebusch, der „länger als je zuvor“ an seinen Texten gearbeitet hat, wird richtig böse, wenn es um diese Einschätzung geht, vielleicht weil er dieses Wort auch als Synonym für eine Naivität versteht, die das Gegenteil von komplex oder cool ist – obwohl das ja mal ein Erfolgsfaktor seiner Band war. „Wenn einer sagt, wir wären authentisch, dann ist das einer der dümmsten und ungerechtesten Vorwürfe, die man machen kann. Wer Authentizität will, soll die Zeitung lesen“, sagt er.

Manchmal wirkt Marcus Wiebusch ein bisschen ratlos: „Wir sind mittlerweile viel weiter, werden aber immer noch über das wahrgenommen, was wir früher sangen“, klagt er. Über 1000 Robota möchte er nicht reden. Das liegt vielleicht auch daran, dass die sich zuletzt eine bittere Fehde mit Freund Thees Uhlmann lieferten. „Spannend“ findet er dagegen den Diss der jungen Band Adolar: „Damals haben wir, Mario Kart‘ gespielt und du hörst heute Kettcar und siehst so komisch aus“, singen die. Er freut sich, dass die Elektro-Punker Frittenbude und der Songwriter Niels Frevert seine Lieder nachspielen und der HipHop-Shootingstar Casper sich nicht nur Thees Uhlmann auf seine Platte holte, sondern sich auch auf Kettcar bezieht. „Casper ist super. Das Phänomen zeichnet sich dadurch aus, dass er ein ganzes Genre neu aufrollen will. Ich habe mich sehr gefreut, als er uns Props gab. In den Texten kann ich zwar keinen Bezug zu uns wahrnehmen, aber seine Skills, seine Punchlines – das ist super. Wenn er einen Song wie ‚Wäre er echt‘ als Blaupause für das, was er macht, bezeichnet, ist das ein wahnsinniges Kompliment!“

Der Titel des Albums Zwischen den Runden verspricht indes einen gewissen Erfolg. Schon einmal benutzte ein Künstler eine Metapher aus dem Boxsport für eine Platte: Das Herz eines Boxers von Marius Müller-Westernhagen hielt sich 1983 stolze 17 Wochen in den deutschen Hitparaden. Einer der Songs heißt „Das da was war“. Eine Ska-Ballade, in der der Deutschrocker singt: „Man muss sich kneifen und weiß, man ist da, und wenn man dann tot ist, dass da was war.“ Im Prinzip liefern Kettcar die upgedatete Version dieser Zeilen.

Albumkritik S. 88

Kettcar

Es war ein offensiver Neubeginn: Ihre erste EP „So lang die dicke Frau noch singt, ist die Oper nicht zu Ende“, veröffentlichten Kettcar 2001 als Umsonst-Download über ihre Bandhomepage. Die Geschichte von Sänger Marcus Wiebusch und Bassist Reimer Bustorff – sie musizierten in den Punk- bzw. Ska-Bands …But Alive und Rantanplan – spielte rasch keine Rolle mehr. Wie auch ihre Freunde und Labelmates Tomte spielten Kettcar wenig chiffrierten Indie-Rock. 2002 erschien das Debüt Du und wieviel von deinen Freunden, die folgenden Alben Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen (2005) und Sylt (2008) erreichten jeweils Nummer fünf der Albumcharts. Nun ist mit Zwischen den Runden die vierte Platte der Band erschienen.