Zwischen Nord- und Ostsee, zwischen wahrem Humor und großer Kunst hat sich Plattenmeister als cooles Kultlabel etablieren können.


Fragt man einen dahergelaufenen Passanten, was denn Deutschlands Kultlabel Nummer Eins sei, so ernüchtert stets die Gegenfrage: „Was ist ein Kultlabel?“ Nun, ein Kultlabel ist eine Plattenfirma, der ein gewisser Kreis aufgeschlossener Musikliebhaber freundlich – um nicht zu sagen frenetisch – zugeneigt ist. Das ist ungefähr so, als würden begeisterte Leser alle Bücher lesen, die bei einem bestimmten Verlag erscheinen. Kultstätte ist in diesem Fall ein Bauernhof hoch droben im Norden, wo Deutschland flach ist wie das Oevre von Oli.P und schmal wie das Drei-Meter-Brett im Freibad, wenn’s darauf ankommt. Dort residiert – hinter halbhohen Hecken und nachlässig bewacht vom schläfrigen Schnauzermischling Bello – die Plattenfirma des Plattenmeisters. Bürgerlich heißt er Uli Saltzmann, aber, hey, was ist schon bürgerlich an diesem Label? Etwa die absurd groovenden Hörspiele von Adolf Noise? Die metallisch düsteren Collagen von Flugschädel? IFA Wartburgs dadaistisch-sozialistisches Paralleluniversum? Wer nun meint, es mit einer anarchischen Kommune zu tun zu haben, die ihre Entscheidungen demokratisch trifft, der kennt den Plattenmeister schlecht: „Demokratie?

Was ist das?‘, entgegnet er finster und präzisiert: „Wir verlassen uns auf unser Gefühl.“ Emotionale Unterstützung bei der Ermittlung tauglicher Independem-Acts leisten Birgit Blumemritt, Klaus Gebauer und Ian Clausen – erprobte Kämpen im Guerillakrieg unabhängiger Promotionarbeit. Gegründet wurde die Firma 1991, „um Nischenprodukle und Szenekünstler zu fördern“, wie Saltzmann zwischen zwei Schwimmzügen im gitarrenförmigen Pool des Anwesens betont. Die Liebe zu Abseitigem und der Komik der Popkullur brachte Plattenmeister zunächst weniger Gewinn als Renommee – deutschsprachige Ans wie Fischmob oder Das Auge Gottes (das erste Signing des Labels) brachten beides, und mit Compilations zur Skateboard-Weltmeisterschaft oder Benefiz-Samplern für einen befreundeten Comic-Verlag konnte auch Gutes getan werden. Das Crfolgsgeheimnis ist ein offenes, kann aber nicht oft genug ausgesprochen werden: „Es geht einfach darum, ob du für Neues offen bist und, wichtiger noch, offen bleibst.“ Auch wenn’s manchmal anstrengend ist? Gerade dann. Anders, lieber Passant, wird man nämlich nicht Deutschlands Kultlabel Nummer Eins.

KIRMES – Rumble in der Old School Disco (3:46)

Eigentlich wollte Gordon nur das 4-Spur-Gerät von seinem flüchtigen Bekannten Jan ausleihen – es kam, wie es kommen mußte: Die Münsteraner produzierten fortan unter dem Namen Kirmes (aus den Pseudonymen Kir Royal und Hermes zusammengesetzt), und zwar extrem fluffige Collagen aus Geräuschen, Samples, Groove und Songs in luftigem HipHop-Gewand. Wie auf obenstehendem Foto unschwer zu erkennen, schauen Kir Royal und Hermes nun endlich rosigeren Zeiten entgegen. Zeit wird’s.

IFA WARTBURG – Frau Gorbatschows tanzt Bossanova (4:07)

Rolf Kempinski und Heinz Klinger sind unterwegs „Im Dienste des Sozialismus“, mit Reimlexikon (siehe Foto). Polyesterhemden und Feinripp-Pollundern. So weit so falsch,denn Rolf und Heinz heißen eigentlich Magnus und Nils, kommen aus Schweden und machen mit Schlagzeug, Trompete, Piano und Soundmachine schlicht und einfach einen echt tollen Swingbeat – und sind damit schon fast deutscher als die Deutschen.

MIKOLAJEWICZ – Ernte 23 (3:42)

Sven Mikolajewicz, aus naheliegenden Gründen auch „der schreckliche Sven“ genannt, hat schon vor seiner Beteiligung an den musikalischen Freibeutereien von Adolf Noise oder Fischmob die Weltmeere der Musik bereist: „Im Prinzip sind meine Stücke“, sagte er einmal.

„Abfallprodukte, die einfach zu stow waren für Fischmob. Eigentlich war es eine Einschlafkassette für meine Freundin“. Dann aber hörte es der Piattenmeister, pennte nicht weg, sondern schickte das Werk auf seinen Erfolgsweg. Vielversprechend heißt auch schon der Nachfolger: „Sven die Gondeln Trauer tragen“ kommt im Herbst.

TEXTA – Fragestunde (4:20)

Mit Charme und Überzeugung knallt dieses Quintett aus Österreich seit 1993 seine Reime aufs Parkett. Die MCs Flip, Laimer, Skero, Huckey und DJ Dandaman entspringen der schönen Stadt Linz, der Kultsender FM4 leistete von Anfang an Schützenhilfe. Nun mag der, der deutsche HipHop-Crews zu schätzen gelernt hat, über Kapper aus unserem südlichen Nachbarland die Nase rümpfen. Doch mangelnde Credibility läßt sich den AlpernHoppern ebenso wenig vorwerfen wie fehlendes Sprachgefühl. Im Gegenteil überzeugen Texta nicht nur mit ausgefeilten Raps und korrekten Beats, sondern auch mit einer Eigenart, die es nur in Österreich gibt und dem Genre überraschend gut zu Gesicht steht: HipHop mit Schmäh.

ADOLF NOISE – Five N. (2:42)

Okay, Adolf Noise mag erstmal ein irritierender Name sein. Nun muß man aber wissen, daß sich hinter diesem Projekt DJ Koze (Fischmob) und Marc Nesium (Fünf Sterne Deluxe) verbergen. Schon das erste Album („Wunden, s. Beine offen“) zappt sich durch Volks- und Popkultur, featured Mutter Beimer ebenso wie Hermann Hesse, liefert dicke Beats, Telefonscherze und flächigen Ambient – das ist experimentelle Tour de Force und Lust am Kopfkino gleichzeitig.

FISCHMOB – Du (äh du) – McOueen’s In The Scene Mix (4:42)

Humor statt Schmalz, Sex statt Sülze – die vielleicht nordischste aller HipHop-Crews hat sich am ultimativen Liebeslied versucht: „Du (äh du)“ groovt lässig und flockig zwischen Soul und Easy Listening, verpackt Komplimente in lächelnde Bösartigkeiten: „Ihr Rücken is‘ breider als der von ’nem Hafenarbeider, und beim Bizepsvergleich werd‘ ich nur Zweider – leider.“ Daß dieses Humorverständnis zu veritablen Plattenverkäufen und Kultstatus geführt hat, das beruhigt dann doch.

DEJAVU – Styles And Skills Brutal feat. King Kool Savas (3:45)

Das vielleicht heißeste Eisen, das der Plattenmeister gegenwärtig im Feuer hat, dürften diese beiden 18jährigen aus Berlin sein. Bereits jetzt haben Dejavue einen Style wie frisches Fettes Brot. Das ist Hamburger Szenegrößen auch nicht entgangen, Dejavues nächste Single wird im Sommer mit prominenter Unterstützung erscheinen. Brauchen sie eigentlich gar nicht: Komplett ohne Werbung verkauften sie von ihrem Debüt 2000 Stück in zwei Wochen – wenn das mal keine Werbung ist.

REBRESCH UND BLUMM – Stiefmutter Natur (2:20)

Rebresch heißt eigentlich Christian Berner und schreibt Gedichte und Lieder, Blumm heißt eigentlich Frank Schültge und macht Musik. Den Anfang ihrer gemeinsamen Arbeit machten die beiden Bremener mit der Veröffentlichung selbstverfasster Comicgeschichten. Als Rininat Rebresch und Perdie Blumm fahren sie nun landauf landab, um mit akustisch untermalten Geschichten, Geräuschmusik, Puppenthater, Live-Hörspielen und Comedy-Einlagen zu unterhalten.

BIO BONSAI – Inspektor B 354

Laut Bio haben diese Leute ihr Leben durch Raubüberfälle und gelegentliche Einbrüche in Videotheken finanziert. Ideengeber für ihre Songs sind deutsche Fernsehsendungenaus der guten alten Zeit,als“Stan und Ollie“ noch „Dick und Doof“ hießen. Ihr Album „Canale Grande“ ist beschwingtes Zappen auf der Fernbedienung, eingebettet in Easy Listening, Dub, oder Drum’n’Bass. Heute würden wir sagen: „Inspektor – ich drück dicht“

PULSER SG – Temptation/Bronco (4:17)

Eigentlich machen Pulser SG ihre Musik gar nicht selbst. Wie sie selbst zugeben, haben sie dafür eine Maschine, die alle 90 Minuten einen Weltniveau-Hit ausspuckt. Entwickelt haben den Apparat Sascha Pankin und Christoph Kahler beides, Gäste von Pulser SG, dem Konzept, das eigentlich aus O.H.W.Janssen und Lars Precht besteht. Das Ergebnis glitzert wie eine Las Vegas Show-Requisite und macht allein zwar nicht glücklich aber es beruhigt doch ungemein. Da trifft es sich ziemlich prima, daß wir die CD – in flauschiger Hülle – mit ins Bett nehmen können, um uns an sie zu kuscheln.

HERBST IN PEKING – Jesus war so cool 4:26)

Seit über zehn Jahren schon gibt es Herbst in Peking – wenn auch mit ständig wechselnder Besetzung. Die Band um Rex loswig, früher bekannt für realexistierenden DDR-Rock, geht mit der Zeit Ihr aktuelles Album „Feuer, Wasser und Posaunen“ zollt neuen musikalischen Entwicklungen wie Dub, härterer progressiver Tanzmusik, Gruft Rock,Techno oder Hardcore ebenso Tribut wie dem guten alten Schlager oder Blues, ohne sich je wie Crossover anzuhören. „Tanz den Jesus Christus!“ möchte man ausrufen und das besandalte Tanzbein schwingen. Natürlich nicht im Schnee, sondern lieber im spätsommerlichen Peking…

FLUGSCHÄDEL – Apfelkrautsalami (4:19)

Großmäulig sind sie, agressiv und laut, die Marktschreier und Metzger, die schon morgens um vier ihre blutige Ware feilbieten: „Schinkenwurst, Knoblauchwurst, Bauernmettwurst drauf…“ Das ganze „verwurstet“ mit Metalgitarren, Industrial, HipHop und ab damit durch den Verzerrer – so klingen Flugschädel. Textmeister Ole: „Ich bin zu Hertie gegangen mit einem Notizblock und habe geguckt, was es für Wurstsorten gibt und hab mir die aufgeschrieben, und wir haben daraus den Text gemacht.“

GRETA SCHLOCH – Alter (3:16)

Diesen Namen sollte man sich besser nicht auf der Zunge zergehen lassen: Greta Schloch! Ein Beobachter beschrieb die norddeutsche Songschreiberin, zu deren Hobbies der gute Geschmack zählt, wie folgt: „Draußen übergibt sie sich noch einmal vor Lachen. Dann macht sie sich auf einer Toilette frisch und stellt sich so auf den Gehweg, daß jeder sie sehen kann.“ Nicht umsonst bat uns der Plattenmeister, nicht das Originalfoto von Greta zu verwenden, sondern es nochmal durch den Kopierer zu jagen, damit es „irgendwie fahndungsfotomäßiger“ aussieht.

FRED ADRETT – Ich bin nicht wie du (3:28)

Normalerweise sind Bios, also die Informationspostillen der Plattenfima, reichlich bedeutungsschwangere Elaborate, in denen das (ungemein spannende) Leben des betreffenden Künstlers ebenso episch ausgebreitet wird wie sein (stets unterschätzter) Einfluß auf die Weltgeschichte. Bei Fred Adrett dagegen gibt’s gerade mal eine handschriftliche Notiz: „Eigentlich wollte Fred zur Hamburger Schule gehen, aber jetzt lernt er lieber alleine zu Hause. Am liebsten sucht er sich Samples von alten Platten und bastelt daraus Lieder. Dann spielt er noch Instrumente dazu. Manchmal macht Fred aber auch Lieder mit ohne Stücke von anderen Schallplatten zu klauen.“ Noch Fragen? Anhören!

DIE PARAMOUNTS – Kimonocowboy (5:02)

Ihre Musik – angesiedelt irgendwo zwischen Billy Wilder und Miss Marple – ist ein Soundtrack für Filme, die noch nicht gedreht worden sind. Logisch, daß die Paramounts eher in großen Theatern und Lichtspielhäusern zu finden sind, als auf Showbühnen, denn hier können sie ihren clubkompatiblen Sound in einer skurrilen Mischung aus Crime und Technicolor Jazz am besten an den Mann, respektive an den Kinozuschauer, bringen. Ein eigener Film (noir) ist bereits abgedreht. Das ist kein Wunder, sind die Musiker doch bis dato alle als Schauspieler an großen Häusern zu sehen gewesen.

HOFUKU SOCHI – Kojo Ni (Hofuku Sochi vs. Dope Fiend in Bar Mitzvah Dub) (5:30)

Die elektronische Hälfte dieses dynamischen Duos, Stachy, ist Schlagzeuger bei Fischmob. Die andere Hälfte, zuständig für die Akustik, nennt sich Seismo Kondo-Veteran diverser Flensburger Undergroundprojekte. Zusammen versuchen die beiden Herren einen Spagat, der elektronische Klänge mit handgemachter Musik verbindet. Daß sie sich dabei den japanischen Namen Hofuko Sochi (dt: „massive Vergeltung“) zugelegt haben, ist ebenso mysteriös wie die Tatsache, daß der Japaner nicht Japan zu Japan sagt – sondern Nippon.